Die Spanische Weihnachtslotterie

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In vielen Ländern und Familien tobt ein Kampf darum, ob der 24. oder der 25. Dezember das eigentliche Weihnachten ist. Die orthodoxen Kirchen in Osteuropa lassen sich bekanntlich Zeit und feiern erst am 7. Januar, so dass mehr Zeit zum Tannenbaumabsägen und zum Plätzchenbacken bleibt.

Ein Land jedoch tanzt vollkommen aus der Reihe: Das vorgeblich katholische Spanien feiert sein Weihnachten jedes Jahr bereits am 22. Dezember.

Wer jetzt fragt „Warum die Eile? Was soll der Stress?“, dem sei gesagt: Der Weihnachtsstress fängt schon im Juli an. Ab da werden nämlich die Tickets zum großen Fest verkauft.

In jeder Kirche, die ich in Andalusien besichtigte, wollte mir jemand Tickets andrehen. Zuerst am Eingang, dann kam der Mesner, schließlich der Pfarrer. Alle: „Haben Sie schon ein Ticket für Weihnachten?“

Zuerst antwortete ich wahrheitsgemäß, dass ich an Weihnachten gar nicht mehr in Spanien sein würde. Das führte zu keinem Nachlassen der Verkaufsbemühungen: „Das macht nichts, es wird live im Fernsehen übertragen.“

Ich verstand nicht, wieso ich Eintrittskarten für etwas erwerben sollte, das ich gratis im Fernsehen sehen könnte. Irgendwann wurde es mir zu aufdringlich, und ich änderte meine Ausrede: „Oh, vielen Dank, aber ich habe schon ein Ticket.“

Damit sollte ich aus dem Schneider sein, dachte ich.

Weit gefehlt: „Kaufen Sie doch noch eins!“ wurde ich ermutigt.

Eine Aufforderung, der anscheinend das ganze Land folgt, wie die langen Schlangen vor den Verkaufsstellen zeigen.

Irgendwann fand ich heraus, dass Weihnachten in Spanien nicht mit Bäumen, Geschenken und Essen gefeiert wird, sondern mit Glücksspiel. In Spanien ist Weihnachten ein Synonym für die Lotterie.

Und jeder muss mitmachen! „Hast du schon Lose gekauft?“ wurde ich immer wieder gefragt, auch von Freunden, die mir nichts verkaufen wollten.

Um mich nicht auf Diskussionen einzulassen, sagte ich einfach: „Ja.“

Aber da fing die Fragerei erst an: „Welche Nummer hast du?“

„Wieso ist das wichtig?“ wunderte ich mich.

Ich meine, ich verstehe schon das Prinzip einer Lotterie und dass die Nummer wichtig ist für den Gewinn. Aber ich verstehe nicht, wieso meine Losziffer für andere von Interesse sein könnte.

„Na, vielleicht haben wir die gleiche Nummer!“ riefen die Freunde begeistert, wie wenn das eine Art Blutsbrüderschaft bedeutet.

Eine Lotterie, die Lose mit den gleichen Nummern mehrfach verkauft, erschien mir eher wie eine Betrugsmasche. Mir begann zu dämmern, wie der Spanische Bürgerkrieg ausgelöst worden war, als eines Tages zwei Leute mit der gleichen Ziffer den Hauptgewinn abholen wollten.

Aber dann wurde ich aufgeklärt:

Die Spanische Weihnachtslotterie, stolz bestehend seit 1812 und weder durch Welt- oder Bürgerkriege, noch durch unfairerweise nach dem Land benannte Grippewellen unterbrochen, ist die größte, wichtigste, wertvollste und superlativste Lotterie der Welt. Jedes Weihnachten werden mehrere Milliarden (!) Euro ausgespielt.

Aber, Tradition ist Tradition, die Lose dürfen nur fünf Ziffern haben. Somit gibt es nur 100.000 mögliche Losnummern (von 00000 bis 99999). Etwas wenig für ein Land mit 47 Millionen Einwohnern, denn schließlich will jeder Bürger mindestens ein Los.

Andere Länder würden auf sechs- oder siebenstellige Losnummern umsteigen, aber Spanien ist kreativer: Man druckt die gleichen Losnummern mehrfach. Und wenn das Los gewinnt, dann teilt man den Gewinn. So einfach geht das. Teilen macht Freude!

Halt! So läuft es beim knausrigen deutschen Lotto. In Spanien hingegen, wo soziale Gerechtigkeit Verfassungsrang hat, führen mehrere Gewinnerlose dazu, dass jeder Losinhaber den vollen Gewinn erhält. Hier wird nicht geteilt, hier wird multipliziert!

Und da die Lotteriegesellschaft dem Staat gehört, schießt der Staat im Notfall einfach das Geld zu. Jetzt wisst Ihr, warum sich Spanien gerade 140 Milliarden Euro aus dem EU-Corona-Aufbaufonds gesichert hat.

Aber ich glaube, es werden immer genug Lose verkauft, um den Topf ausreichend zu füllen. Letztes Jahr wurde jede Nummer 170 Mal ausgegeben, also insgesamt 17 Millionen Lose.

Theoretisch.

Denn jetzt wird es wirklich kompliziert. Ich habe mir das dreimal erklären lassen müssen, um es Euch einigermaßen darlegen zu können. Aber alle Angaben sind, wie immer beim Lotto, ohne Gewähr!

Weil 17 Millionen Lose noch immer nicht für 47 Millionen Einwohner ausreichen, werden die Lose geteilt. Und zwar nicht ideell oder durch Geheimabsprachen, sondern im wahrsten Sinne des Wortes zerschnippelt. Die Lotteriegesellschaft hat dagegen keine Einwände, sondern bietet jede Losnummer in jeder Serie als Bogen mit zehn Kupons an, die man abtrennen und einzeln kaufen und verkaufen kann.

Die auf diese Kupons entfallenden Gewinne werden jedoch, anders als die auf die gleichen Nummern in verschiedenen Serien entfallenden Gewinne, durchaus geteilt, und zwar nach dieser Formel:

In Spanien werden vor Weihnachten viele Taschenrechner verkauft.

Dafür kostet jeder Kupon nur ein Zehntel des Preises eines ganzen Loses. Das ist wiederum sehr sozial, denn ein gesamtes Los kostet happige 200 Euro, was sich niemand leisten kann. Also kauft irgendjemand den ganzen Bogen und verkauft neun Zehntellose weiter. Deshalb wird man auch im Bahnhof, im Park, beim Händewaschen, auf dem Flughafen, bei der Verkehrskontrolle und vor allem in jeder Bar angesprochen, ob man nicht einen Kupon erwerben möchte.

So sieht ein Los aus: In der Mitte die fünfstellige Losnummer (88485), rechts oben die Serie (168), darunter die Nummer des Kupons (1 von 10). Und der Preis von 20 Euro, weswegen ich mir den Spaß nie gegönnt habe.

Weil, wie ich schon gejammert habe, 20 Euro noch immer viel Geld sind, werden die Kupons noch einmal geteilt. Da gleiten wir aber vom offiziellen ins inoffizielle Wettgeschäft ab, denn die Kupons darf man nicht noch einmal zerschneiden. Stattdessen trifft man im Park auf Leute, die Fotokopien von ihren Kupons verkaufen und dafür versprechen, einen am Gewinn zu beteiligen. Man kauft also eine Kopie, wobei der Verkäufer natürlich den Beteiligungsquotienten mitteilt, und hinterlässt bei dem fliegenden Händler seine Telefonnummer zur Gewinnbenachrichtigung an Weihnachten.

Die Menschen in Spanien sind sehr ehrlich.

Besonders verbreitet sind diese Partizipationsgeschäfte (die der Idee von Aktienfonds nicht unähnlich sind) unter Gruppen, die am Weihnachtsabend zusammen feiern und fiebern wollen: Familien, Arbeitskollegen, die Stammkundschaft in einer Kneipe, Sportmannschaften, die Besatzung der Internationalen Raumstation, Gefängnis- oder Altenheiminsassen.

Bekanntlich gibt es nichts Kompliziertes, was nicht noch komplizierter gemacht werden kann:

Um Fälschungen zu unterbinden, muss die Lotteriegesellschaft einen Überblick behalten, welche Lose mit welchen Nummern von welcher Serie sie an welche der 3.420.591 Verkaufsstellen ausgeliefert hat.

Nun gibt es Leute, die eine bestimmte Losnummer wollen. Vielleicht das Geburtstdatum. Oder die Ziffer, die letztes Jahr gewonnen hat. Oder eine Ziffer, die noch nie gewonnen hat. Oder die Zahlen, die die Wahrsagerin in der Straße hinter der Stierkampfarena weisgesagt hat – natürlich gegen Gewinnbeteiligung.

Weil die Lotteriegesellschaft eine staatliche ist und weil die Verwaltung in Spanien sehr bürgerfreundlich ist, kann man dort anrufen und fragen, an welches Kiosk im großen, weiten Land (zu dem bekanntlich auch Landstriche in Afrika und im Atlantik gehören) die gewünschten Nummern ausgeliefert wurden. Viele Spanier nutzen dann die Sommerferien, die Herbstferien, Streiktage oder die Frühverrentung, um durchs Land zu fahren und die Wunschlose zusammenzukaufen.

Eine weitere Form des Lotterietourismus ergibt sich, wenn eine Verkaufsstelle im letzten Jahr das große, fette Gewinnerlos („El Gordo“) verkauft hat. Ich weiß nicht, warum, aber Hunderttausende von Menschen fahren dann im aktuellen Jahr zu eben jener Verkaufsstelle, um mindestens 20 Euro zu hinterlassen.

Und wenn das Gewinnerlos an einer Tankstelle verkauft wurde, dann verkauft diese Tankstelle im folgenden Jahr kein Benzin mehr, weil niemand 3 Stunden zwischen lauter Glücksrittern anstehen will, um die Tankfüllung zu bezahlen.

In diesem Fall war es besonders krass, weil die Tankstelle auf Teneriffa liegt. Viele Spanier flogen vom Festland extra auf die kanarische Insel. Gott bewahre, wenn das Glückslos mal aus Melilla kommt.

Und am 22. Dezember ist die Ziehung.

Sie wird live im Fernsehen übertragen, mit Einschaltquoten jenseits derer von Fußball-Weltmeisterschaften oder Königskrönungen, mit Freudenschreien und Herzinfarkten im ganzen Land.

Eine Besonderheit ist, dass die gewinnenden Losnummern sowie der jeweils darauf entfallende Preis von Kindern aus dem San-Ildefonso-Gymnasium in Madrid gesungen werden.

So geht das für mehr als 2000 Preise, den ganzen Tag lang. Aber in anderen Ländern machen die Leute ja auch nichts Sinnvolles an Weihnachten.

Warum die Kinder manchmal weinen? Tja, das ist so: Das San-Ildefonso-Gymnasium ist ein Waisenheim. Auf die Waisenkinder greift man schon seit mehr als 200 Jahren zurück, weil bei ihnen nicht die Gefahr besteht, von den Eltern zum Schummeln angestiftet zu werden. In früheren Zeiten gab es ausreichend Waisen, wahrscheinlich wegen Krieg und Krankheit und weil die Eltern nach Südamerika auswanderten, um El Dorado zu finden und Gold und Silber zu schürfen. Im 20. Jahrhundert, als natürliche Ereignisse keinen stetigen Nachschub an Waisenkindern mehr lieferten, halfen der spanische Staat und die katholische Kirche nach. Sie raubten unschuldigen Familien die Kinder, um sie zu Lottofeen und Chorknaben auszubilden.

Aber weil es für Weihnachten ist, heiligt der Zweck die Mittel.

Übrigens, gute Nachrichten für deutsche Glücksspieler: Seit 2013 wird zwar eine Quellensteuer abgeführt, aber weil in Deutschland Lotteriegewinne steuerfrei sind, können deutsche Glückspilze nach dem deutsch-spanischen Doppelbesteuerungsabkommen diese Steuern zurückfordern. – Vielleicht sollte ich mit diesem Wettbewerbsvorteil in spanischen Parks steuerfreie Gewinnanteile verkaufen?

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Die Nebenwirkungen der Grippe-Impfung

Ich bin immer skeptisch, wenn Leute auf eine Zahl oder eine Statistik starren und dann glauben, dass man daraus viel für die Wirklichkeit ableiten könne, ohne die näheren Hintergründe zu verstehen.

Ja, die Scheidungsquote ist heute höher als vor 100 Jahren, aber das bedeutet nicht, dass die Menschen beziehungsunfähiger geworden sind. Es gibt heute ganz andere rechtliche und wirtschaftliche Voraussetzungen, eine tolerantere Gesellschaft und eine längere Lebenserwartung. Eine niedrige Scheidungsquote ist keine Kunst, wenn die Männer sowieso alle im Krieg sterben.

„Wir starben, weil wir es zuhause nicht mehr aushielten.“

Ja, das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf in Liechtenstein ist viermal so hoch wie in Deutschland. Aber das nützt dir nichts, wenn du in Liechtenstein nicht als Briefkastenfirma, sondern als Busfahrer schaffst. Es bringt dir nicht einmal ein höheres Trinkgeld ein, weil Briefkastenfirmen nur selten mit dem Bus fahren. Selbst wenn der Bus „Postauto“ heißt, um sich – wie anscheinend alles in Liechtenstein – bei den Briefkastengaunern anzubiedern.

Ja, die Löhne in Rumänien sind niedriger als in Deutschland, aber dafür zahlen 95% der Bevölkerung keine Miete, weil sie ihr eigenes Häuschen haben. Wobei auch diese Zahl wiederum mit Vorsicht zu genießen ist. Etliche Leute haben zwar ein Haus oder eine Wohnung oder mehrere, brauchen diese aber gar nicht. Sie können sie aber kaum verkaufen, weil jeder andere auch schon ein paar Häuser geerbt hat. Dazu kommen Landflucht und Auswanderung, so dass die Statistik über Immobilienbesitz gar nicht so viel über die Lebensrealität aussagt. Wie eben die meisten Statistiken.

Turda palace 1
Gewöhnliches Einfamilienhaus in Turda, Rumänien

Es ist also alles viel komplizierter als eine einzige Zahl und die voreiligen Rückschlüsse, die man daraus ziehen will.

Daran habe ich gedacht, als ich am Freitag bei der Impfung gegen die Grippe war. Das ist die Influenza, nicht zu verwechseln mit den Influencern. Gegen die gibt es leider noch keine Prophylaxe, da hilft nur die Vollnarkose.

Es gibt nämlich krasse Unterschiede zwischen den Ländern bei der Impfquote (hier die Werte für die über 65-Jährigen): Am besten sind Südkorea und Mexiko, zwei eigentlich sehr unterschiedliche Länder, mit jeweils über 83%. In Deutschland liegen wir bei 40%. In Europa sind die nordischen Länder, aber auch Spanien und Griechenland vorne, einige osteuropäische und baltische Länder ziemlich weit unten. Deutschland und Luxemburg haben so einen komischen Zwischenstatus, nichts Halbes und nichts Ganzes.

Was lernen wir jetzt daraus?

Wenn ich nur erwähnen würde, dass Südkorea die höchste und Polen die niedrigste Impfquote hat, würden sofort die Vorurteile von gut organisierten Asiaten und fatalistischen Katholiken ausgepackt. Aber Mexiko hat fast die gleiche Quote wie Südkorea, obwohl Mexikanerinnen noch viel gottesfürchtiger sind als Polinnen.

Ich hatte mal eine Freundin aus Mexiko, die wollte, dass ich ihr aus Rom einen Rosenkranz mitbringe, der vom Papst gesegnet worden war. Weil ich von so Firlefanz nichts halte, habe ich einfach an einem dieser Tandläden, die rund um den Vatikan ihr halbseidenes Unwesen treiben, einen Rosenkranz gekauft, nach Mexiko geschickt und behauptet, der Papst habe ihn persönlich gesegnet und übermittle seine besten Wünsche. „Weniger Arbeit, mehr Fokus aufs Studium, und laden Sie Andreas doch mal nach Mexiko ein“ oder irgend so etwas Lebenspraktisches hat er dazugeschrieben. Diese Päpste treffen ja immer den richtigen Ton, das lernen die schon im Priesterseminar.

Leider hatte die misstrauische Mexikanerin auf der Arbeit einen Internetanschluss und fand heraus, dass der Papst in der Woche meines Aufenthalts in Rom gar nicht zuhause gewesen war. Das war nämlich damals dieser polnische Reisepapst. (Und siehe da, schon haben wir die Verbindung zwischen Polen und Mexiko.) Ich wollte mich damit herausreden, dass es in der Geschichte schon oft zwei Päpste gleichzeitig gegeben hatte, und wie solle ich als Atheist entscheiden, welcher von den beiden der echte ist. Ehrlich. Aber das Vertrauen war dahin. Die Freundin wandte sich von mir ab und einem katholischen Impfskeptiker zu. Der starb später an Covid-19.

Aber eigentlich wollte ich auf etwas anderes hinaus.

Ich vergleiche mal die Impfquoten von Deutschland (40%) und Kanada (67%). Das sind zwei ähnlich entwickelte, reiche, friedliche, relativ säkulare Länder. Was erklärt den Unterschied? Viele Leute würde jetzt irgendeinen Grund aus dem Biberpelzhut ziehen, und wenn ihnen sonst nichts einfällt, sind es am Ende „kulturelle Unterschiede“. Sorgen sich Kanadier mehr um ihre Mitmenschen? Oder um sich selbst? Sitzen Deutsche mehr zu Hause, so dass sie sowieso niemanden anstecken? Oder liegt es am Wetter? Kanada ist ja viel kälter.

Aber wenn man näher hinsieht, tragen all diese Gründe nicht. Australien (definitiv nicht besonders kalt) liegt z.B. viel näher an der kanadischen als an der deutschen Quote. Eigentlich ist das alles Kaffeesatzleserei, und die Gründe stammen meist aus dem Fundus der Vorurteile.

Wahrscheinlich hätte ich genauso herumgerätselt und -geraten, wenn ich nicht zufällig die beiden Impfsysteme von Kanada und Deutschland kennen würde. Reisen bildet wirklich, zumindest wenn man etwas genauer hinsieht.

Vor ein paar Jahren verbrachte ich einen Winter in Kanada.

Ich ging zum Einkaufen in so eine komische Shopping Mall, wo es alles gibt außer einer Buchhandlung. Aber ansonsten echt alles, von Fast Food bis zu Möbeln, vom Friseur bis zur Bankfiliale, von Ahornsirup bis zu Jagdgewehren. Und vor jeder Apotheke und vor jedem Drogeriemarkt stand ein großes Schild „FLU SHOTS FOR FREE“ oder ähnliches. Überall in der Stadt, wo Pillen oder Mullbinden verkauft wurden, hingen große Plakate, die zur Grippe-Impfung einluden.

Weil ich schon mal da war, dachte ich mir: Eigentlich eine gute Idee. Also ging ich in in den Drogeriemarkt, der eine kleine Apothekenecke hatte. Keine Ahnung, ob das Fräulein wirklich Apothekerin war, aber sie trug einen weißen Kittel. Sie fragte nach meiner Krankenversicherung, die ich natürlich nicht hatte. Zumindest keine kanadische. Sie war sehr hilfsbereit und wollte irgendwelche Optionen eruieren, damit ich trotzdem kostenlos geimpft werden könnte, aber ich fragte einfach, was es denn koste. 14 Dollar, sagte sie, das sind weniger als 10 Euro. Das kann ich mir noch leisten, sagte ich. Sie führte mich in ein Impfhinterzimmer, führte die Impfung durch und bat mich, die nächsten 10 Minuten in der Shopping Mall zu bleiben und sofort zurückzukommen, wenn ich Schmerzen oder Schwindel verspüre. Ich verspürte nur Hunger.

Das war’s. Ohne Termin. Ohne Wartezeit. An jeder Ecke erhältlich. An sieben Tagen die Woche. Unkompliziert. Niederschwellig. Es gibt sogar Drive-Through-Impfungen, wo man nicht mal aus dem Auto aussteigen muss.

Jetzt bin ich zurück in Deutschland.

Hier kann man natürlich einen Termin beim Arzt vereinbaren. Aber ich weiß, dass Ärzte echt viel zu tun haben, und ich will sie nicht wegen Kleinigkeiten behelligen.

Ich will eigentlich nie irgendjemanden inkommodieren, das ist eine Marotte von mir. Ich gehe zum Beispiel in den letzten 30 Minuten vor Ladenschluss nicht zum Einkaufen, weil ich denke, die Leute wollen Feierabend machen und schon langsam aufräumen. Beim Konditor kaufe ich nicht den Kuchen, nach dem mir intrinsisch gelüstet, sondern ein Stück von dem Kuchen, der ein Ladenhüter ist. Denn ich denke mir: „Der arme Bäckermeister wird verletzt sein, wenn eines seiner Werke keinen Absatz auf dem hart umkämpften Markt für Süßwaren findet.“ Ich drücke auch nicht den Ampelknopf für den Fußgängerüberweg, wenn ich sehe, dass ein Bus kommt. Denn ich fände es unangemessen, wenn 30 Menschen wegen einem Menschen warten müssen. Ich glaube, wenn ich einmal nach Hause käme und da säße ein Fremder auf der Couch, würde ich sagen: „Oh, Entschuldigung, ich wollte nicht stören.“ Nur wenn ich das Gefühl habe, dass mich jemand verarscht, dann werde ich fuchtig.

Diese Rücksichtnahme ist ein typisch japanischer Wesenszug, was mal wieder zeigt, wie falsch man mit kulturellen Stereotypen liegen kann. Ich bin nämlich kein Japaner und war noch nie in Japan. Ich würde gerne, aber ich habe die Befürchtung, dass ich in kulturelle Fettnäpfchen treten würde und dass die Japaner dadurch behelligt würden. Nicht durch meine Fehltritte direkt, sondern durch den Zwiespalt, sich überlegen zu müssen, ob es weniger unhöflich ist, meinen Fauxpas zu ignorieren oder mich dezent darauf hinzuweisen, damit er nicht öfter vorkommt.

In Montenegro habe ich einmal an einem verregneten Tag eine Japanerin getroffen, oben auf der alten Stadtmauer von Kotor. Sehr romantische Stimmung, aber es war echt Zufall. Ich war da jeden Tag, sie war nur einmal da.

Jedenfalls hatte sie einen Schirm. Ich hatte keinen. Als sie mich lange genug teilnahmslos in den Regen und die Bucht von Kotor hat starren sehen, schloss sie den Regenschirm. Ich sprach sie an – das war vor „Me Too“ -, und sie erklärte, dass sie mich als Einheimischen eingestuft und sich überlegt hat, ob der heutige Regen vielleicht so ortsüblich ist, dass es wiederum ortsunüblich sei, sich dagegen übertrieben zu schützen. Vielleicht gehöre der Regen hier einfach zum Leben oder der Niederschlag habe für mich persönlich eine tiefere Bedeutung, und dann wolle sie das respektieren. Sodann entschuldigte sie sich, dass sie nicht viel über die Geschichte von Kotor wisse, aber sie sei auf einer dieser in-14-Tagen-durch-Europa-Touren. Sie wolle damit nicht insinuieren, dass die jeweilige Stadt keiner eingehenderen Betrachtung wert sei, aber sie habe leider nur zwei Wochen Urlaub. Außerdem bat sie um Verzeihung dafür, dass sie „die örtliche Sprache“ nicht spreche, womit sie sehr geschickt den hochpolitischen Streit umging, ob diese Sprache Serbokroatisch, Serbisch oder Montenegrinisch ist.

Ich war zutiefst beeindruckt, wie eine junge Frau während einer stressigen Reise auf die Gefühle aller von ihr durchreisten Länder, aller dort lebenden Volksgruppen und aller Bürgerinnen und Bürger Rücksicht nimmt, während in meinem eigenen Land die Leute zu doof sind, im Zug ihre Tasche vom Sitz zu nehmen. Echt, die Japaner die uns besuchen, müssen teilweise denken, wir seien Barbaren.

Wo war ich? Ach ja, ich wollte erklären, weshalb ich wegen Kleinigkeiten nicht zum Arzt gehe.

Zum Glück dürfen seit ein paar Jahren auch in Deutschland Apotheken impfen. Der Ärzteverband hat das jahrelang blockiert und behauptet, das würde zu Tausenden von Toten führen. Außerdem, man bitte um Verständnis, der neue Porsche war so teuer.

Ich finde es immer verdächtig, wenn Berufsgruppen jammern, wie überarbeitet sie sind, aber dann keine Aufgaben abgeben wollen. Das ist wie bei den Behörden und Gerichten, die über die hohe Arbeitslast klagen, aber dann alles so kompliziert wie möglich machen. Oder die Polizei, die über zu viele Überstunden jammert, aber dann bei jedem Fußballspiel zu Tausenden in Köpenick einfällt. Oder wie Eltern, die über die Belastung jammern, aber ihre Kinder überall hinfahren und abholen, wie wenn die Kinder keine zwei Beinchen hätten. Ich habe gehört, es gibt sogar Eltern, die täglich für ihre Kinder kochen. Das ist echt dekadent. Es reicht nun wirklich, dass man den Kleinen zeigt, wo der Kühlschrank steht.

Also ging ich zur nächstgelegenen Apotheke in Chemnitz, um mich impfen zu lassen.

„Wir machen keine Impfungen“, sagte die Apothekerin und begründete es mit fehlendem Personal, fehlenden Kapazitäten, und es klang irgendwie wie fehlende Lust.

„Aber um Bonbons und Gummibärchen zu verkaufen habt Ihr Kapazitäten“, dachte ich, während ich mich im Laden umsah. Bei all dem Schrott, den Apotheken verkaufen, frage ich mich, warum man dort keine Zigaretten bekommt. In Brasilien ist das so. Da verkaufen die Apothekerinnen am Straßenrand auch Schnaps und Zigarren, weil ja irgendwie alles mit der Gesundheit zu tun hat. Vielleicht waren es auch gar keine echten Apothekerinnen, aber sie hatten immerhin einen weißen Kittel und ein Blutdruckmessgerät.

Ich habe übrigens seit September mit dem Rauchen aufgehört, aber so persönliche Sachen interessieren hier ja niemanden.

Auf einer Apothekenwebsite fand ich heraus, dass es in der Groß-, Welt- und Kulturhauptstadt Chemnitz nur zwei Apotheken gibt, die Grippe-Impfungen anbieten. Ich fuhr mit dem Bus nach Glösa, einem schmucken Vorort, ging frohgemut in die Apotheke und wurde abgewiesen, weil ich keinen Termin vereinbart hatte. Aufgrund meiner oben geschildeten Erfahrung aus Kanada wusste ich bisher nicht, dass man so etwas braucht. Aber zum Glück war ein schöner Herbsttag, ich ging erst zum Bäcker, dann spazieren und lernte so einen Teil meiner Stadt kennen, in den ich sonst nie gekommen wäre. Weil ich eigentlich nur zur Impfung wollte, hatte ich keine Kamera dabei, deshalb hier kein Foto aus Glösa, sondern von einem anderen schönen Herbsttag.

Einen Termin konnte ich nicht vereinbaren, weil ich in der kommenden Woche in Plauen und in Erfurt weilte. Ich mache es kurz: In Plauen wurde ich von einer Apotheke zur anderen geschickt (immer sehr freundlich, das muss man sagen), bis ich schließlich bei der einzigen impfenden Apotheke war, die mir (ebenfalls sehr freundlich) mitteilte, dass schon alle Termine ausgebucht seien. In Erfurt klagte die Apothekerin über Personalmangel und dass sie leider in den nächsten zwei Wochen keine Zeit habe.

Man sieht jetzt die unterschiedliche Herangehensweise in Kanada und in Deutschland, die wahrscheinlich die Differenz zwischen den Impfquoten erklärt. Denn ganz ehrlich, man kann es niemandem verhehlen, wenn er nach dem dritten oder vierten Versuch einfach aufgibt. (Oft ist die Grippesaison dann ja sowieso vorbei.) Organisation erklärt viel mehr als kulturelle, religiöse, wirtschaftliche, historische oder andere imaginierte Unterschiede.

Diese Woche war ich in Kaiserslautern, zu einem Gerichtstermin. Vielleicht liegt es daran, dass Kaiserslautern ziemlich amerikanisiert ist, jedenfalls hing dort bei einer Apotheke in der Fußgängerzone (in der erschreckend viele Obdachlose schlafen, aber das ist wahrscheinlich auch die Amerikanisierung) tatsächlich ein Poster, dass hier geimpft werde. Weil man in meinem Beruf nie weiß, wann man spontan in ein Gelbfiebergebiet abkommandiert wird, hatte ich meinen Impfpass dabei, ging in die Apotheke und bekam einen Termin für den nächsten Morgen um 9:30 Uhr. Es war immer noch komplizierter als in Kanada, aber immerhin hat es endlich geklappt.

Der Impfapotheker war sehr sympathisch und nahm sich ausreichend Zeit, um aus seinem Leben zu erzählen und mich über meines auszufragen. Ich mag das, wenn man als Patient nicht so durchgeschleust wird. Schockiert war ich nur, als er unvermittelt sagte: „Kaiserslautern ist eine hässliche Stadt.“ Ich meine, es stimmt schon. Aber trotzdem, so unverblümt und noch dazu mitten in Kaiserslautern, ich musste echt lachen.

Und jetzt komme ich endlich zu dem, was die Überschrift angekündigt hat. Der Impfapotheker zählte die gravierenden Nebenwirkungen auf: „Der linke Arm kann möglicherweise ein bisschen schmerzen. Deshalb keinen Sport machen! Allenfalls einen Spaziergang.“ Und, das hat mir am besten gefallen, „Auch nicht Putzen oder Aufräumen.“

Jetzt warte ich, bis die Apotheke anruft und das Sport- und Putzverbot aufhebt. Bis dahin halte ich mich sicherheitshalber daran. Strengstens.

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Nirwana

In dem Sorgerechtsstreit einer amerikanischen Familie beim Amtsgericht Kaiserslautern zählt die gegnerische Rechtsanwältin in ihrem Schriftsatz die Orte auf, wo die Familie seit Eheschließung gewohnt hat:

Es hat eine Weile gebraucht, bis ich kapiert habe, dass „Nirvana“ für Nevada stehen soll. Das ist das Problem, wenn man diktiert, anstatt selbst zu tippen.

Andererseits, wenn man mit dem Zug von Chemnitz nach Kaiserslautern fährt, kann man echt glauben, es sei so weit weg wie Nirwana. Diesmal bin ich vom 26. bis zum 29. November in Kaiserslautern, falls jemand aus der Gegend ist und Lust auf ein Treffen hat.

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Expressionismus gegen die Winterdepression

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Angeblich sind etwa 10% der Bevölkerung von Winterdepression betroffen, wobei das wahrscheinlich regional schwankt und die Zahlen in Kanada und Mecklenburg-Vorpommern höher liegen als in Ecuador oder in Indonesien. Ecuador liegt nämlich, wie der Name nahelegt, am Äquator und hat deshalb gar keinen Winter, was ich persönlich viel deprimierender finde. Vielleicht haben die deshalb so eine hohe Mordrate.

Um besorgten Anrufen gleich entgegenzuwirken: Ich persönlich bin nicht betroffen, zumindest nicht derzeit. Ich habe irgendwann gemerkt, dass ich gar nichts gegen den Winter habe, sondern nur gegen Weihnachts- und andere Jahresendfeiern, und denen kann man schließlich aus dem Weg gehen. Die Stimmung um diese Jahreszeit finde ich eigentlich ganz okay, vor allem wenn man, wie ich, das Glück hat, in einem Arrondissement zu leben, dass die romantische Note dieser Jahreszeit ganz besonders akzentuiert.

Gegen die Winterdepression schwören manche auf Lichttherapie, andere, je nach Glauben oder Präferenz, auf Globuli oder Pharmaka. Möglicherweise könnten auch Psychotherapeuten helfen, aber bei denen hat noch nie jemand einen Termin bekommen. Die sind noch knapper als Impftermine. Und die Psychiater haben oft selbst einen an der Klatsche, wenn man ehrlich ist.

Eine Sache, die mir hilft, wenn ich spüre, dass das Trübsal drohend um die Ecke blickt, ist die Kunst. Insbesondere der Expressionismus. Intensive Farben, kräftige Pinselstriche, kein Verlieren in den Details. Und deshalb gehe ich in den Wintermonaten gerne ins Museum und tanke kräftige Farben gegen den grauen Novembernieselregen.

Zum Glück lebe ich in Chemnitz, der Europäischen Kulturhauptstadt 2025, die auch vor und nach diesem stressigen Jahr ganz wunderbare Museen, Galerien und Ausstellungen bietet. Hier nur ein paar Fotos aus den Kunstsammlungen am Theaterplatz und aus der Neuen Sächsischen Galerie:

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Zeitumstellung

Zeitumstellung
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Familiendrama

Spätabends am U-Bahnhof Ottakring:

Eine junge Frau mit Kinderwagen stürmt aus dem Aufzug und fordert lautstark und bestimmt: „Können Sie bitte die Polizei rufen!“

„Warum?“ frage ich.

„Der Typ da hinten bedroht mich“, deutet sie auf einen ebenfalls jungen Mann, der hinter ihr herschlurft.

Zum Glück kommt ein ÖBB-Mitarbeiter hinzu, dessen Lebenserfahrung sich in seiner Ruhe und in der Frage spiegelt: „Ist das Ihr Mann oder Ihr Freund?“

Das Opfer der Bedrohung kann den Stolz nicht verbergen: „Das ist mein Freund und ich bin im achten Monat schwanger.“

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„Müll“ von Wolf Haas

Vor kurzem habe ich den Wolf Haas entdeckt. Aber das habe ich schon erzählt.

Wobei „Entdecken“ eigentlich ein viel zu aktives Verb dafür ist, dass man bis dahin halt keine Ahnung von etwas gehabt hat. Es nervt mich immer, wenn die Seefahrer so großspurig tun, von wegen „Amerika entdeckt“, „Australien entdeckt“, „Osterinsel entdeckt“. Das ganze Konzept hat auch etwas Rassistisches, findet Ihr nicht? Wenn der erste Weiße nach Australien kommt, ist er der große Entdecker. Aber ich möchte mal sehen, was die Europäer gesagt hätten, wenn der erste Australier nach Europa gesegelt wäre und getönt hätte: „Ich habe Euch entdeckt und jetzt gehört Ihr mir.“ Die hätten ihn gleich in ein Abschiebezentrum gesteckt.

Penicillin gab es eigentlich auch schon immer. Aber da lasse ich noch mit mir diskutieren, wenn man die Entdeckerleistung auf die praktische Anwendung und Nützlichkeit dieser Substanz bezieht. „Substanz“ ist übrigens ein gutes Wort, wenn man gerade nicht weiß, ob es sich um Bakterien, um Säuren, um Organelle oder um Vitamine handelt. Man könnte natürlich bei Wikipedia nachsehen, aber das ist eine der gefährlichsten Seiten im Internet. Da kommt man immer vom Hundertsten ins Tausendste. Sowas kann ich überhaupt nicht leiden.

Jedenfalls klingt „Substanz“ gescheiter als „Ding“. „Entität“ ist auch so ein praktisches Wort, wenn Ihr nicht wisst, ob eine Region ein unabhängiger Staat ist oder nicht. Oder ob es ein Fürstentum oder eine Teilrepublik ist. So hat man das 1995 im Friedensvertrag von Dayton gelöst. Weil man sich nicht darüber einig werden konnte, wie die Republika Srpska zum Rest des Staates steht oder idealerweise stehen soll, hat man sowohl diese wie auch die Föderation Bosnien und Herzegowina als „Entitäten“ in der Verfassung festgelegt. In Wirklichkeit ist es komplizierter, weil es noch ein paar Exklaven und ein Kondominium gibt. Außerdem mischt der Landwirtschaftsminister von der CSU mit.

Aber jetzt, wo ich auf den Balkan abgeschweift bin, fällt mir ein, dass ich eigentlich über einen Krimi aus Wien erzählen wollte. Denn das ist ja auch irgendwie eine Balkanentität. Zumindest in Ottakring.

Nach der Rezension von „Wackelkontakt“ wurde ich von meiner gebildeten Leserschaft einstimmig darauf hingewiesen, dass die Brenner-Krimis von Wolf Haas erst recht die Lektüre lohnen. Also bin ich in heute die Stadtbibliothek gerannt, wo man merkt, dass Sommerferienzeit ist: Fast alle Krimis waren entliehen.

Das ist ein gutes Zeichen, denn wer Krimis liest, begeht selbst keine Straftaten. Und wenn, dann ist er/sie schön blöd. Denn das erste, was die Kripo nach einem Banküberfall macht, ist natürlich die Nachfrage bei der Stadtbibliothek, wer in letzter Zeit Bücher über Banküberfälle ausgeliehen hat. Überhaupt sind die Gefängnisse zu einem großen Teil nicht deshalb voll, weil die Leute kriminell sind, sondern weil sie doof sind. Und am dämlichsten sind die Leute, die glauben, sie seien besonders schlau. Ehrlich, da könnte ich Geschichten von meinen Mandanten erzählen, wenn ich dürfte. Die rauben eine Tankstelle aus und glauben, sie seien Arsène Lupin, weil sie währenddessen für ein paar Minuten ihr Handy in den Flugmodus schalten.

Es war nur mehr ein Buch da, nämlich „Müll“, das ich flugs ausgecheckt habe, wie man das in der Bibliothekswissenschaft nennt. Bibliothekswissenschaft ist übrigens eine große Ärgerlichkeit, weil deren Absolventen ein Kartell bilden. So hat man als arbeitsloser Historiker, Philosoph oder Literaturwissenschaftler keine Chance mehr auf einen lockeren Job in der Bücherei.

Mit solchen Ausbildungen kann man aber immerhin, und jetzt nähern wir uns langsam der Handlung des Buches, auf dem Mistplatz arbeiten, wie man in Österreich die Wertstoffhöfe nennt. Dort hackelt auch der ehemalige Kieberer, als in den Recyclingwannen Leichenteile entdeckt werden.

Brenner wird natürlich, das ist wahrscheinlich so eine Berufskrankheit, in die Ermittlungen hineingezogen. Weil „Müll“ ein Krimi ist, darf ich nicht viel verraten. Aber es entwickelt sich eine schön verzwickte Geschichte zwischen Abfallwirtschaft und Organhandel, zwischen Wien und dem Chiemsee, zwischen kleinen Bestechungen und home invasion.

Noch wichtiger als die Handlung sind die liebenswürdigen Charaktere, die witzigen Dialoge und vor allem die meisterhaft-lockere, natürlich wirkende Sprache. Wolf Haas schreibt so, wie wenn er mit dem Leser abends am Donaukanal sitzt und eine Geschichte erzählt. (Aus eigener Erfahrung: Steigt schon an der Taborstraße aus der U-Bahn und holt Euch an der Würstelbude am Eck noch eine heiße Käsekrainer und ein paar Bier. Die haben bis mindestens um Mitternacht offen, was während meiner Zeit in Wien an einigen Abenden meine Rettung war. Aber Vorsicht mit der Krainer, wenn Ihr am Kanal sitzt, denn da huschen nachts die Ratten rum.)

Ich bin gleich aus der Bibliothek zu Marx und Engels in den Park gegangen, weil es ausnahmsweise mal unter 30 Grad hatte und man wieder im Freien lesen konnte. Schon nach wenigen Kapiteln war ich hellauf begeistert! Immer wieder musste ich so laut auflachen, dass mich Passanten verwundert-kritisch beäugt haben. In Sachsen ist es nicht so gerne gesehen, wenn man guter Laune ist, zumindest nicht öffentlich. Und wenn man dazu noch ein Buch liest, dann gilt man eh als intellektueller Spinner. In einem Restaurant in Chemnitz, in das ich öfters allein gegangen bin, wurde ich mal gebeten, keine Bücher mehr zum Mittagessen mitzubringen. „Sind wir hier bei den Roten Khmer oder was?“ fragte ich, und da flog ich natürlich gleich raus. Es war ein vietnamesisches Restaurant.

Seither muss ich wieder selbst kochen und lebe sehr ungesund.

Was mich an „Müll“ auch beeindruckt hat, ist das Geschick, mit dem Wolf Haas ernste Themen (Organspende, Scheidung, warum klingeln Paketboten nicht?) anspricht, ohne dass es aufgesetzt wirkt. Es stecken ein paar Weisheiten und Nachdenklichkeiten in diesem Krimi, die einem aber nicht auf so amateurhaft-aufdringliche Art und Weise vor den Latz geknallt werden wie bei Bernhard Schlink, Ferdinand von Schirach oder Paulo Coelho.

Genauso überschätzt wie der brasilianische Dampfplauderer wird der Dalai Lama. Echt, der nervt mich. Mit hohlen Phrasen und esoterischen Kalendersprüchen erreicht man nichts für Tibet (auch so eine „Entität“). Der aktuelle Dalai Lama hat am 6. Juli Geburtstag, dann werden wieder alle Zeitungen mit seinem Grinsgesicht voll sein. Dabei verschweigen die Mainstream-Medien, dass ich am gleichen Tag ebenfalls Geburtstag habe (genauso wie die Komoren). Ich erwähne das nur, falls jemand von Euch ein paar Brenner-Krimis herumliegen hat. Denn „Müll“ habe ich bereits heute in einem Rutsch ausgelesen, und jetzt gelüstet mich nach mehr.

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Geschichtsvergessenheit

To the English version.

Sehr enttäuschend finde ich die mangelnde Begeisterung von Mandanten, wenn ich ihnen erkläre, dass das fein austarierte Zusammen- und manchmal Gegenspiel von Bundesgesetzen, Landesjustiz und kommunaler Exekutivgewalt eigentlich auf das Heilige Römische Reich zurückgeht.


Ebenso überraschend: Die weitgehende Teilnahmslosigkeit meiner Mandanten beim Amtsgericht oder Oberlandesgericht Nürnberg, wenn ich sie mit der Information aufmuntere, dass sie im gleichen Gebäude geschieden werden, in dem einst die Nazis gehenkt wurden.

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„Wackelkontakt“ von Wolf Haas

„Die Handlung war zu konstruiert“ hört man oft, wenn Leute aus dem Kino kommen und sich ärgern, dass die Straßenbahnfrequenz nach 22 Uhr spürbar abnimmt, so dass sie jetzt noch eine Viertelstunde an der zugigen Zentralhaltestelle herumstehen müssen. Oder wenn sie ein Buch enttäuscht zuklappen und in den Sand legen, bevor sie den Neoprenanzug überziehen, die Harpune schultern und zum nächsten Tauchgang im Roten Meer aufbrechen.

Anscheinend soll das kritisch gemeint sein, aber gelehrter klingen als „hat mir nicht gefallen“.

Wobei alles besser ist als „das hat mich einfach nicht abgeholt“. Zum einen ist ein Buch nicht die eingangs erwähnte Straßenbahn. Zum anderen schwingt da so eine Erwartungshaltung mit, nach dem Motto: „Jetzt habe ich 25 Euro für 236 Seiten bezahlt, da möchte ich wenigstens abgeholt werden.“

Ich selbst bezahle fast nie 25 Euro für ein Buch, weil ich weiß, wie Bibliotheken funktionieren. Wenn man einmal den Dreh raushat und weiß, wie man diese öffentlichen Bücherhäuser nutzt, dann spart man jeden Monat Hunderte an Euros. So kommt man auch mit weniger als dem durchschnittlichen Nettolohn eines Industriearbeiters ziemlich gut und gebildet über die Runden. (Ein trauriger Nebeneffekt ist, dass dadurch die Autoren darben und verhungern. Aber keine Sorge, es wachsen ständig neue nach.)

Menschen, die wollen, dass Bücher sie „abholen“, sagen wahrscheinlich auch: „Nächstes Jahr machen wir Mallorca.“ Ich wünsche dann immer viel Spaß mit den tektonischen Prozessen zwischen afrikanischer und eurasischer Platte, aber natürlich nur leise und innerlich, nicht laut. Man will auf der Gartenparty, wo alle etwas unbeholfen rumstehen, weil man nicht weiß, ob man sich auf den Rand der Hochbeete setzen darf, schließlich keine Diskussion über die Plattentektonik lostreten. Wobei mich immer wieder überrascht, wie relativ spät diese entdeckt wurde. Als ich auf die Polytechnische Oberschule ging, war das gerade der letzte Schrei und der Geografieprofessor ganz begeistert und aus dem Häuschen. Wir Schüler und Schülerinnen blickten auf die Weltkarte und sagten unisono: „Das ist doch evident, Alter!“ Aber ich glaube, die Jugend von heute ist respektvoller und sagt nicht mehr „evident“.

Ebenso wenig würde es der Jugend einfallen, mir vorzuwerfen, ich schriebe „zu konstruiert“.

Ganz im Gegentum wird mir manchmal vorgeworfen, man verlöre bei meinen Artikeln leicht den roten Faden. Wobei das überwiegend von Menschen ohne besonders ausgeprägte Geduld kommt, die einfach nicht weit genug lesen, um den roten Faden dort wieder aufzunehmen, wo er auftaucht. Dabei wird man bei meinen Geschichten im wörtlichsten Sinn „abgeholt“, weil man während des Lesens mit im Zug nach Stockholm sitzt. Oder nach Berlin. Oder einmal quer durch Kanada. Oder nach Görlitz und zurück. Bequemer und gemütlicher und zielgerichteter geht es kaum.

Seit ein paar Wochen gibt es wieder ein bisschen Tohuwabohu im Nahen Osten. Auf der Suche nach dem ultimativen Artikel, der wirklich alles über den Nahen Osten erklärt, bin ich auf diesen gestoßen. Und ich muss zugeben: Da habe ich während des Schreibens selbst ein paarmal vergessen, worüber ich eigentlich schreibe.

„Da habe ich mich wohl total verfranzt.“

Deshalb kann ich, um jetzt endlich auf den Punkt zu kommen, nicht nachvollziehen, wenn man „konstruiert“ als etwas Negatives ansieht. Ist eine Handlung konstruiert, hat sich der Autor einen Plan gemacht. Am Reißbrett, an der Pinnwand, auf einem Tisch voller Zettel oder – wenn es ein stilloser Banause ist – in einem dieser neumodischen Computergeräte. Das ist doch schön. Mir nötigt das allergrößte Hochachtung ab, wenn jemand auf Jahre hinaus einen Plot planen kann.

Und es kann durchaus gelingen. Zum Beispiel in dem Buch „Wackelkontakt“ von Wolf Haas, das ich gestern mit großem Vergnügen an einem Tag ausgelesen habe.

Es geht um einen Mann, der zuhause auf den Elektriker wartet und währenddessen ein Buch liest. Das Buch handelt von einem Mafia-Killer, der im Gefängnis sitzt und ein Buch liest. In jenem Buch geht es um einen Mann, der zuhause auf den Elektriker wartet. Und so weiter.

Anfangs war ich genervt davon, dass die beiden Handlungsstränge nicht streng nach Kapiteln unterteilt waren, sondern fließend ineinander übergingen. Aber bald war ich beeindruckt, wie flüssig und kreativ diese Über- und Ineinandergänge gestaltet waren. Das ist schon ein anderes Kaliber als wenn jemand einfach so runterschreibt, was einem in den Sinn kommt.

Man springt also zwischen beiden Erzählungen hin und her, findet den einen weniger sympathisch als den anderen und merkt lange nicht, was das eine mit dem anderen zu tun hat. Bis irgendwann, vielleicht nach dem ersten Drittel, vielleicht in der Mitte des Romans, der Groschen fällt.

Und dann wird es kompliziert, weil die Tochter des (mittlerweile aus dem Gefängnis entlassenen) Mafioso das Buch stibitzt und es an Stelle ihres Vaters weiterliest. Das Tempo nimmt zu, die verschiedenen Ebenen berühren sich immer wieder, und der Leser wird hin- und hergerissen zwischen Krimi, Familiengeschichte und literarischer Spielerei. Wirklich toll konstruiert!

Ich könnte hier mehr von der Handlung erzählen, um Euch zu überzeugen, dass das Buch die Lektüre lohnt. Aber das hieße auch, Euch um einen Teil des Vergnügens zu bringen.

Also, geht in die Bibliothek (der Wolf Haas hat schon genug verdient) und holt Euch den „Wackelkontakt“.

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Altersarmut

Viele Menschen wissen das nicht: Wenn man von einem Bundesland in ein anderes zieht, dann verfallen die bisherigen Rentenanwartschaften.

Tja, ich wusste das auch nicht.

Und so war ich etwas schockiert, als ich nach meinem Umzug von Bayern nach Sachsen den ersten Rentenbescheid erhielt.

Aber gut, ich bin ein genügsamer Typ. Damit komme ich schon irgendwie über die Runden.

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