Von Radeberg nach Radeburg nach Radebeul (Teil 1)

Das Beste am Bloggen sind – auch wenn mein Freund Salman Rushdie dazu eine andere Meinung hat – die Rückmeldungen aus der Leserschaft.

Als ich über eine Wanderung von Freiberg nach Freital schrieb, die ich unternommen hatte, um diese beiden Orte endlich nicht mehr zu verwechseln, meldete sich ein geographie- und alliterationskundiger Leser mit dem Vorschlag, ich könne doch von Radeberg nach Radeburg nach Radebeul laufen.

Die Idee hat mir sofort gefallen. Radeberg – Radeburg – Radebeul, das hört sich mystisch-märchenhaft an. Wie Rapunzel – Rhabarber – Radieschen. Rattenfänger – Rabensuppe – Rasenmäher. Rabauke – Rachitis – Ragnarök. Wie ein Dreiklang aus den Merseburger Zaubersprüchen. Die wollen jetzt übrigens UNESCO-Weltdokumentenerbe werden, was unweigerlich die Frage aufwirft: „Wenn Ihr echte Zaubersprüche seid, wieso zaubert Ihr Euch nicht einfach auf die UNESCO-Liste?“

Die UNESCO ist aber auch sehr streng, das muss man zugestehen. Dresden zum Beispiel wurde wieder von der Liste genommen und verödet seither.

Als ich am Hauptbahnhof in Dresden umsteige, befeuern sie gerade die Dampfloks. Hier ist das Leben echt noch wie vor 100 Jahren, was, wenn man die Geschichte von damals kennt, etwas beunruhigend sein könnte.

Eigentlich ignoriere ich so kulturlose Orte. Aber wer nach Radeberg, Radeburg oder Radebeul will, muss notgedrungen durch Dresden, um das herum sich das zu erwandernde Triptychon auffächert.

Der Karte kann man nicht nur die Etappenziele entnehmen, sondern auch, dass ich es auf einen Tag nicht schaffen werde. Die Kilometer- und Stundenangaben bei Onlinekarten unterschätzen immer die Umwege, Ausflüge und Exkursionen, die ich – absichtlich und unabsichtlich – einbaue. Also fahre ich mit dem Zug nach Radeberg, obwohl der Wanderweg von Dresden nach dorthin fast gänzlich durch die Dresdner Heide führen würde.

Wenn ich Pech habe, ist dieser Abschnitt, den ich auslasse und überspringe, der schönste Teil der ganzen Strecke. Aber ich habe selten Pech, das ist das Schöne an meinem Leben.

Radeberg also. Das kennt man eigentlich nur vom Bier. So wie Kulmbach oder Pilsen.

Sehr beliebt scheint die Stadt nicht zu sein, zumindest nicht an einem Samstagmorgen um 8 Uhr. Ich bin der einzige, der in Radeberg aussteigt. Aber gut, der Zug fährt ja auch weiter nach Görlitz, der angeblich schönsten Stadt Deutschlands. (Ich war schon mal da und kann das bestätigen, aber weil ich den Artikel darüber noch nicht geschrieben habe, muss ich so tun, wie wenn ich es noch nicht wüsste. Mit dieser ständigen Prokrastination wird man noch ganz kirre im Kopf.)

Der erste Eindruck von Radeberg ist, nun ja.

Die Lebensmittelausgabe der Tafel wirbt mit dem Slogan „das Original“. Es muss also noch weitere Armenspeisungen in der Stadt geben, die sich um die verhungernde Klientel balgen.

Aber dann, ums Eck, entfaltet sich die ganze Pracht und Existenzberechtigung Radebergs: Brauereien, Biergaststätten, Bierkneipen, Bierbars, ein Biertheater, ein Bierkino, Schnapsbrennereien, Likörläden, Spirituosenhandlungen.

Die ganze Stadt ist vom Alkohol geprägt. Ich gehe in die gerade erst geöffnete Elefanten-Apotheke, um sicherheitshalber Tabletten gegen Heuschnupfen zu erwerben, aber die Apothekerin empfiehlt: „Jetzt trinken Sie erst einmal einen Schnaps.“ Die Bierstadt Radeberg wirbt mit dem Slogan: „Entfliehen Sie bei uns dem Alltag.“

Im Fenster der Stadtbibliothek stehen „König Alkohol“ von Jack London, „Weinprobe“ von Dick Francis und „Der Trinker“ von Hans Fallada. Bierkästen dienen als Sitzgelegenheit, Dekorationselemente, Blumenkästen und als Poller in der Fußgängerzone.

Vor dem Rathaus hängt ein Aushang, der informiert, welche Fundsachen in der vergangenen Woche abgeliefert wurden. Es sind mehrere Seiten, die von Handschuhen bis zu Fahrrädern alles aufzählen, was halt so verloren geht, wenn man ständig alkoholisiert ist. Und am Ende der Hinweis: „Die Fundsachen können im Rathaus abgeholt werden. Kraftfahrzeuge können bei der Polizei abgeholt werden. Kinder können in der Ausnüchterungszelle des Jugendamtes abgeholt werden.“

In normalen Städten hat man in der ersten Reihe die Prunk-, Repräsentations- und religiösen Bauten, und die Destillerien sind irgendwo im Industriegebiet versteckt. In Radeberg ist es umgekehrt. Hier sind die Prachtstraßen und Fußgängerzonen gesäumt von Biertempeln, und die evangelische Stadtkirche ist versteckt auf einem Hinterhof in einer Seitenstraße.

Schon 1714 hatte dort ein Pfarrer die Stadt Radeberg mit Sodom und Gomorrha verglichen, woraufhin die erzürnten Radeberger die Kirche in Brand steckten. Schon ein paar Jahre später tat ihnen das allerdings leid, und sie wollten die Kirche wieder aufbauen. Um an die nötigen Finanzmittel zu kommen, veranstalteten sie ein Bierfest mit einer Lotterie. Denn mit nichts tritt man dem Sodom-und-Gomorrha-Vorwurf so entschieden entgegen wie mit Saufen und Glücksspiel.

In der Innenstadt ist Radeberg dann doch ganz hübsch. Die anfänglichen Fotos waren zugegebenermaßen etwas unfair, denn welche Stadt wirkt in unmittelbarer Bahnhofsumgebung schon ansehnlich? (Na gut, vielleicht Palermo. Und in der Nähe des Hauptbahnhofs in Wien gibt es wenigstens den Schweizergarten, wo ich immer gerne ein paar Stunden Pause einlege, meine Füße in den Teich stecke und eine Zigarre qualme.)

Auf dem Marktplatz steht, wie eigentlich überall in Sachsen, eine Postmeilensäule, die angibt, wie weit und lange es in die nächsten Orte dauert. Leider befindet sich Radeburg nicht auf der Liste der beliebten Destinationen, so dass ich mich vollkommen uninformiert und desorientiert auf die Wanderschaft machen muss.

Ach ja, Radeberg hat natürlich auch ein Schloss: Schloss Klippenstein.

Hier wurde 1757 August Friedrich Ernst Langbein geboren, der Jurist und Advokat war, aber lieber Schriftsteller sein wollte. Weil er davon nicht leben konnte, nahm er schließlich eine Stelle als staatlicher Zensor an. Diese Position nutzte er, um seine eigenen Werke auf den Index zu setzen, damit sie aus den Leihbüchereien entfernt wurden und er sie selbst zu Höchstpreisen verkaufen konnte.

Das Volk öffnet seine Börse jedoch lieber für Bier als für Bücher, und so verstarb Langbein enttäuscht und verarmt. Ein grausiges Schicksal, das all jenen droht, die sich zwischen Jura und Schreiben nicht entscheiden können.

Von Schloss Klippenstein führt ein Drei-Schlösser-Wanderweg über Schloss Wachau zu Schloss Seifersdorf. Das klingt verlockend, aber ich habe ein festes Ziel für diesen Tag: Radeburg. Da muss es ja auch eine Burg geben, sonst dürfte die Stadt nicht so heißen.

Außerdem, wenn man im Schlösserland Sachsen wohnt, dann sind Schlösser gar nichts Besonderes mehr. Die stehen hier an jeder Ecke. Man geht da nur vorbei und denkt sich: „Ach, sieh an, noch ein Schloss.“ Wahrscheinlich so wie Leute in Texas über Tankstellen denken. Die machen ja auch nicht an jeder davon Halt und Fotos und großes Getöse.

Der Weg von Radeberg nach Radeburg führt, wie es der Stabreim verlangt, durch raffiniert raschelnde Rapsfelder. Und tatsächlich kommt mir ein rasender Radfahrer entgegen, der sich schon auf das Radler in Radeberg und auf einen radikalen Rausch freut.

Diese Felder sehen zwar schön aus, wenn man mit dem Zug daran vorbei fährt. Aber wenn man mittendurch wandert, dann merkt man erst, wie die stinken. Wenn Ihr es schön gelb haben wollt, baut doch lieber Sonnenblumen an. Wie in Transnistrien.

Transnistrien ist eigentlich wie Sachsen. Ein Landstrich im fernen, ja allerfernsten Osten Europas bzw. Deutschlands, über den jeder eine Meinung hat, obwohl die wenigsten je selbst dort gewesen sind. In der Vorstellung gefährlich und unwirtlich, voller Separatisten, die eine unverständliche Sprache sprechen. Wenn man sich dann endlich dorthin wagt, wird man positiv überrascht. Aber auch ein latenter Konfliktherd, an dem irgendwann wieder das Fass der Geschichte überlaufen wird, wenn niemand darauf achtet, wie es sich Tropfen für Tropfen füllt.

Auch architektonisch ist es manchmal schwer zu sagen, ob man gerade in Sachsen oder in Transnistrien ist. Ihr könnt ja mal raten:

Nördlich von Radeberg beginnt der Wald. Ein solider deutscher Wald, ohne willkürliche Vergleiche, ohne schiefe Metaphern, ohne weitere Ausflüge auf Nebengleise. Nur gesunde Eichen, Buchen und Ahornbäume. Zwitschernde Vögel, hüpfende Eichhörnchen, grunzende Wildschweine.

Und ein Schild: „Vorsicht: freilaufender Hund!“

Der Sinn solcher Schilder erschließt sich mir nicht. Was soll man mit solch einer Warnung anfangen? Wenn irgendwo im Wald ein Schild vor Landminen warnt, dann bleibe ich auf dem Weg. Wenn vor Zügen oder Straßenbahnen gewarnt wird, dann blicke ich nach links und rechts, bevor ich den Schienenstrang überquere. Wenn vor herabfallendem Eis gewarnt wird, dann spaziere ich im Winter nicht unter dem Eiffelturm durch.

Aber was soll ich gegen den Hund unternehmen? Die Eigentümer können ja kaum wollen, dass ich ihn erschieße.

Außerdem, wenn jemand Geld für so ein überflüssiges Schild hat, dann hat er auch Geld für eine Kette. Oder für eine Hundehütte, damit das arme Wuzerl nicht frei herumlaufen und einsame Wanderer in Wirrnis und Wahnsinn versetzen muss.

Zusätzlich zu den herumstreunenden Killerhunden höre ich jetzt das Kreischen von Kettensägen. Verlassene Häuser tauchen auf. Es raschelt im Gebüsch. Eine Glasscheibe birst. Die Amseln, Finken und Meisen verstummen unter dem drohenden Gekrächze eines pechschwarzen Raben.

In den Fenstern hängen Dosen und stehen Kerzen. In einem Horrorfilm wären das Warnsignale, bei denen das Publikum entsetzt ausruft: „Geh da nicht rein!“ Aber ich habe kein Publikum, und wenn, dann erfreut es sich gewöhnlich an meinen Kalamitäten.

Was ist hier los? Wer lebt da mitten im Wald? Warum machen Menschen so grausame Dinge? Gibt es noch immer Hexen? Was hat die Stasi damit zu tun? Soll ich meiner Neugier folgen und nachsehen?

All dies und vieles mehr beantworte ich in Teil 2 dieses Wanderberichts, demnächst auf diesem Blog. Und dann, weil ich ziemlich langsam wandere und langsam schreibe, folgen wahrscheinlich noch Teil 3 und Teil 4.

Links:

Veröffentlicht unter Deutschland, Fotografie, Reisen | Verschlagwortet mit , , , | 10 Kommentare

Von der Holznot zur Nachhaltigkeit

Meine Artikel zur Geschichte wurden bereits als schnoddrig„dümmster Blog aller Zeiten“„absolut widernatürlich und beispiellos“ignorant„völlig unangemessen“nestbeschmutzendmühsamvor Halbwahrheiten strotzendSchlamasselClickbait und sogar als „Aufruf zum Mord“ kritisiert.

Zu einer gewissen Schnoddrig- und Flapsigkeit, fein dosiert auch bei ernsten Themen eingesetzt, stehe ich. Die anderen Vorwürfe weise ich aufs Entschiedenste zurück und fordere die Beleidiger zum Blog-Duell auf. Diesen Samstag im Morgengrauen, passend zum Caspar-David-Friedrich-Jubiläum.

Oben die Kopie, unten das Original aus der Sierra Maria in Andalusien. Leider habe ich für den Aufstieg so lange gebraucht, dass der Nebel schon weg war. Dafür gab’s dann später ein Gewitter.

Aber ich kann auch anders als flapsig. Notgedrungen. Denn im Geschichtsstudium an der Fernuniversität in Hagen geht es sehr ernst zu. Das ist wie bei den Marines in Full Metal Jacket„Hier wird nicht gelacht!“

Letztes Wintersemester nahm ich an einem Seminar zur Geschichte des Waldes im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit teil. Weil ich sowieso einen Großteil des Geschichtsstudiums im Wald verbringe, dachte ich mir: „Endlich mal etwas, wo ich mitreden kann“, war dann aber, wie meist im Studium, überrascht, wie wenig ich wusste.

Menschen, die glauben, dass man im Geschichtsstudium die Namen aller englischen, britischen und schottischen Könige oder alle Schlachten aus dem Hundertjährigen Krieg auswendig lernt, werden sich jetzt vielleicht wundern: „Geschichte des Waldes, was soll das sein? Da stehen halt Bäume.“

Aber ich finde solche Seminare super, denn geht es um alles: Der Wald als Ressource, als Zufluchtsraum, als mythischer Ort in Malerei, Sagen und Literatur. Die Holzgewinnung, die Proto-Industrialisierung, die Wald- und Forstwirtschaft, Flößerei, Köhlerei. Die Allmende, die Markgenossenschaften und später die Idee des Privateigentums. Forstgesetzgebung und Forstverwaltung als Beginn der Staatlichkeit. Verteilungskämpfe, Ressourcenknappheit, Umweltprobleme, alles schon vor Hunderten von Jahren. Der Wald in den Märchen und die Angst vor den Wölfen. Die Wiederbelebung des Mythos der waldnahen Germanen während der Befreiungskriege gegen Napoleon und natürlich im Faschismus, bis hin zu einem Begründungsstrang für den Antisemitismus, der die angebliche Andersartigkeit der Juden auf ihre „Waldlosigkeit“ zurückführte. Dass die Deutschen dann im 20. Jahrhundert auch zum Massenmorden gerne in die Wälder gingen, war nicht mehr Thema des Seminars, ist aber etwas, was mir insbesondere in den Wäldern Osteuropas auch immer wieder durch den Kopf geht.

Als Jurist versuche ich im Geschichtsstudium immer, die rechtshistorischen Themen zu besetzen. Man muss ja Synergien nutzen. Aber die Forstordnungen und die Forstgesetzgebung waren schon an Kommilitonen vergeben, und mir blieb nur mehr die Entdeckung der Nachhaltigkeit.

Von diesem Referat gibt es eine schriftliche Fassung, die ich, damit sie nicht sinnlos auf dem Semesterserver schlummert, Euch hiermit zum – zur Abwechslung – ernsten Lesen darbiete.


Einleitung

Wenn man den Werbeaussagen und Selbstbezichtigungen glauben will, so ist seit einiger Zeit alles “nachhaltig”: von der Kreuzfahrt bis zur Kapitalanlage, vom Raumfahrtprogramm bis zur Rüstungsindustrie, von Fischstäbchen bis zum Fernstudium.

Wenn ein Begriff so inflationär gebraucht und praktisch inhaltsleer wird1, liegt der Verdacht nahe, dass es sich dabei um eine Erfindung von Werbefuzzis handelt. Aber weit gefehlt: Die Nachhaltigkeit kommt, wie so vieles, aus den Tiefen der Wälder und blickt auf eine mindestens 300-jährige Geschichte zurück.2

Den Großteil dieser Zeit verblieb der Nachhaltigkeitsbegriff in ebendiesen Wäldern bzw. in den kleinen, aber feinen Kreisen der Forstwirt- und -wissenschaft.3 Erst 1987, durch den Brundtland-Bericht der UNO, wurde die “nachhaltige Entwicklung” zum ökologischen und ökonomischen Leitbegriff:4

“Nachhaltige Entwicklung ist eine Entwicklung, welche die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne die Fähigkeit zukünftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen.”

Im Rahmen eines historischen Seminars interessieren uns aber natürlich die Anfänge, deshalb: ad fontes beziehungsweise, wie wir hier im Erzgebirge sagen: back to the roots!

Begriffsgeschichte “Nachhaltigkeit”

Die Wortschöpfung ist – zumindest im deutschsprachigen Raum – leichter zu datieren als der Beginn der Idee. Sie geht zurück auf das 1713 erschienene Buch Sylvicultura oeconomica oder Haußwirthliche Nachricht und Naturmäßige Anweisung zur Wilden Baum-Zucht von Hans Carl von Carlowitz.5

“Wird derhalben die gröste Kunst / Wissenschaft / Fleiß / und Einrichtung hiesiger Lande darinnen beruhen / wie eine sothane Conservation und Anbau des Holtzes anzustellen / daß es eine continuirliche beständige und nachhaltende Nutzung gebe / weiln es eine unentberliche Sache ist / ohne welche das Land in seinem Esse6nicht bleiben mag.”7

Oder im aktuellen Deutsch:

“Kunst, Wissenschaft, Fleiß und staatliche Ordnung beruhen in unserem Land auf Walderhaltung und Anbau von Bäumen. Sie gewähren kontinuierliche, beständige sowie nachhaltige Nutzungen und bewahren unser Wesen.”8

Hans Carl von Carlowitz

Hans Carl von Carlowitz (1645-1714) war zum Zeitpunkt der Publikation der Sylvicultura oeconomica Leiter der Montanverwaltung des Kurfürstentums Sachsens9 in Freiberg, eines der damaligen Zentren des europäischen Silberbergbaus.10

Die Bergwerke waren in der Frühen Neuzeit Großverbraucher von Holz11, und insbesondere vor der Erfindung und Verbreitung der Eisenbahn musste dieses aus der näheren Umgebung der Bergwerke und Verhüttungsanlagen herangeschafft werden.12 Es kam durchaus vor, dass eine noch ergiebige Mine zeitweise nicht mehr ausgebeutet werden konnte, weil es an Holz zum Bau der Stollen und/oder zur Verhüttung fehlte.13 Aufgrund der wirtschaftlichen Verflechtung von Montan- und Holzproduktion war das Forstwesen bis zur Entstehung einer eigenständigen Forstverwaltung beim Bergamt angesiedelt.14

Sylvicultura oeconomica

Die Sylvicultura oeconomica ist mit 432 Seiten das bis dahin umfangreichste deutsche Werk über die Forstwirtschaft, unter Ausschluss von Landwirtschaft und Jagd.15 Äußerst detailliert behandelt es die Auswahl der Holzarten, die Aussaat, die Pflege des Waldes, die Einbürgerung ausländischer Waldbäume, die Gefahren für die Bäume, die Bodenbearbeitung, die Wiederaufforstung von Kahlflächen und vieles mehr.16 Andererseits versprüht das Werk den Wissensdurst eines Universalgelehrten, der Vergil, Herodot, Tacitus, Cicero, Ovid, Plutarch und viele andere zitiert, sowie von dem heimischen Publikum unbekannten Bäumen aus dem Libanon, dem Orient, aus Mexiko und vom Kap der Guten Hoffnung berichtet.17 Die Sylvicultura oeconomica ist nach Umfang, Gewicht und Inhalt kein Büchlein für die Westentasche des Försters, sondern richtete sich an das gebildete Publikum an den Höfen.

Die Kernaussagen der Sylvicultura oeconomica sind eine alarmierende Schilderung des Ist-Zustandes, die Notwendigkeit eines Bewusstseinswandels, Maßnahmen zum sparsamen Verbrauch von Brenn- und Bauholz18, die Nutzung von Ersatzstoffen (namentlich Torf), und insbesondere die planmäßige Aufforstung, um dem Wald regelmäßig nicht mehr Holz zu entnehmen als nachwächst.19

Es ist fraglich, ob Carlowitz den Begriff der Nachhaltigkeit, der fürderhin die Forstwissenschaft prägen sollte, bewusst erschaffen hat.

Ulrich Grober behauptet, man spüre förmlich, wie Carlowitz nach einem passenden Ausdruck gesucht habe20, aber mir scheint, da fabuliert er etwas. Denn auf den 432 Seiten der Sylvicultura oeconomica kommt der Begriff “nachhaltende Nutzung” nur einmal vor, und das erst auf Seite 105.21 Auch das Druckbild des Originals zeigt, dass auf der gleichen Seite zwei andere Sätze, nicht jedoch jener mit der “nachhaltenden Nutzung” durch eine größere Schriftart hervorgehoben wurden.22 Wenn Carlowitz gezielt einen neuen Ausdruck in die Debatte einführen hätte wollen, so hätte er ihn sicher öfter und an prominenter Stelle in der Sylvicultura oeconomica verwendet.23

Stattdessen verwendet Carlowitz für das gleiche Konzept an anderen Stellen seines Werkes Begriffe wie “continuirlich”, „pfleglich“, “holtzgerecht” oder “perpetuirlich”.24

Ideengeschichte der Nachhaltigkeit

Außerdem war, um von der Begriffs- zur Ideengeschichte zu wechseln, das Konzept der nachhaltigen Nutzung des Waldes, also der Beschränkung des Einschlags auf die Menge von Bäumen, die nachwächst, nicht neu.25

Carlowitz selbst hat nie behauptet, die Idee der nachhaltigen Forstwirtschaft erfunden zu haben.26 Die bereits in anderen europäischen Staaten kursierenden Ideen dazu waren ihm bekannt, denn er hatte vor seinem Eintritt in die sächsische Montanverwaltung eine Grand Tour (1665-1669) absolviert, die ihn nach England, Frankreich, die Niederlande, Schweden, Dänemark, Italien und Malta führte.27

Außerdem spiegelt der Text der Sylvicultura oeconomica die gute Literaturkenntnis seines Autors wider, der neben Philosophen, Dichtern, Historikern, Reiseberichten vor allem Forstordnungen des französischen Königs sowie deutscher Fürstentümer zitiert.28

Carlowitz stellt insbesondere die Verordnungen Ludwigs XIV. als vorbildlich heraus.29 Die Ordonnances sur le fait des Eaux et Forets waren 1669 erlassen worden und gründeten auf der Sorge vor drohendem Holzmangel.30

Unterschiede zwischen damaliger Nachhaltigkeitsidee und heutigen Nachhaltigkeitsbegriff

Dass eine schwer lesbare forstwirtschaftliche Anleitung von 1713 dreihundert Jahre später ausgiebig und allenthalben rezipiert wird31, liegt wohl weniger am Interesse für die frühneuzeitliche Umweltgeschichte, sondern an der Aktualität, ja Dringlichkeit der Diskussion um den nachhaltigen Umgang mit Ressourcen und Energieträgern.

Dabei ist zu berücksichtigen, dass der damalige Nachhaltigkeitsbegriff nur wenig mit dem heutigen und noch weniger mit Umweltschutz zu tun hat, auch wenn manche gerne eine direkte Linie ziehen würden.32 Die rationale Nutzung von Ressourcen war eine wirtschaftliche Notwendigkeit, die die Fürsten und Forstverwaltungen aus finanziellem Eigennutz propagierten.33 Der Wald war Kapital, aus dem Profit gezogen werden sollte. Der Schutz des Waldes diente – ganz profan – dem Erhalt des Kapitalstocks.

Andererseits findet man in der Sylvicultura oeconomica auch durchaus ethische Bekenntnisse34 “zur Beförderung des allgemeinen Bestens”35, was man heute als “Gemeinwohl” bezeichnen könnte, eine Verantwortung vor Gott und dessen Schöpfung36, sowie Hinweise auf die ästhetische und gesundheitliche Wirkung des Waldes.37

Die wirtschaftliche Interessenlage wird auch sichtbar bei einem zeitgenössisch sehr heiß diskutierten Thema, der (angeblichen) Holznot.

Der Holzmangel bei Carlowitz

Anders als der Begriff “nachhaltend”, der sich in der Sylvicultura oeconomica nur einmal findet, erwähnt Carlowitz in fast jedem Kapitel (und im erweiterten Titel seiner Schrift) die “Holznot” oder den “Holzmangel”.38 Diese Gefahr ist sein großes Anliegen und der eigentliche Grund für das Buch.39 Das gesamte vierte Kapitel des ersten Buches der Sylvicultura oeconomica ist dem “Holtzmangel und dessen Ursachen” gewidmet.40

Auch dies war keine Erfindung von Carlowitz. Der Holzmangel oder gar die Holznot waren ständige Drohkulissen oder Schreckensszenarien, die insbesondere in Forstordnungen, aber auch in der frühen Fachliteratur als Grund dafür angeführt wurden, dass man den Wald schützen/regulieren/verwalten müsse.41 Damit verbunden war oft der Gedanke, dass nur die Obrigkeit zu einem verantwortungsvollen Umgang mit den Waldressourcen in der Lage war, während das Volk ungezügelten Raubbau an den Wäldern betreiben würde.42

Gab es tatsächlich eine Holznot?

Bis ins 20. Jahrhundert wurden die zeitgenössischen Warnungen vor der Holznot weitgehend unhinterfragt wiedergegeben43. Erst seit den 1980er Jahren hat sich eine teils heftige Debatte darüber entwickelt, ob es je eine ernsthafte Holznot gab oder ob eine solche zumindest unmittelbar bevorstand.44 Wenn man sich in die Tiefen dieses Streits hinab begibt, erkennt man, warum dieser so erbittert geführt wird: Es geht dabei nicht (nur) um die Wälder der Frühen Neuzeit, sondern es geht um Fragen von Ressourcenschonung und Fortschrittsglaube, um den Gegensatz von freiem Markt und staatlicher Intervention.45

In Wirklichkeit waren die Verhältnisse regional und zeitlich äußerst unterschiedlich.46

Wenn die Bevölkerungszahl z.B. infolge der Pest stark zurückging, so konnte sich der Waldbestand erholen.47 Umgekehrt führte ein Anstieg der Bevölkerung zu einer vermehrten Holzentnahme.48 Allerdings hat sich diese Entwicklung in Mitteleuropa spätestens ab 1800 entkoppelt: Die Bevölkerung stieg rasant, und der Waldbestand litt kaum mehr darunter.49 Und bereits die zwei Jahrhunderte vorher blieb der Waldbestand relativ konstant.

Regional mag es in einer stark wachsenden Stadt oder in einer Region mit viel holzintensivem Gewerbe wie Bergbau, Verhüttung, Glasbläserei u.s.w. zu Holzknappheit gekommen sein.50 Dies jedoch durchaus mit der Möglichkeit, dass ein oder zwei Tagesreisen weiter gesunde Wälder standen. Zu berücksichtigen ist, dass Holz vor der Verbreitung der Eisenbahn in großen Mengen nur zu Wasser – und auch dort oft nur in eine (Fließ-)Richtung – zu transportieren war. Ein regionaler Holzmangel war also nicht so leicht oder schnell zu beheben, weil es zumindest für Brennholz keinen funktionierenden überregionalen Markt gab.51

Nun ist (temporäre) Knappheit etwas ganz Normales52, und selbst Mangel ist noch keine Not. Schließlich beruhten auch die dörflichen Markgenossenschaften auf der Erkenntnis, dass das verfügbare Holz begrenzt war, und organisierten diese Knappheit selbstverwaltet.53 Eine wirkliche durch die Holznot verursachte Krise ist nicht nachzuweisen.54 Es gab, soweit ich weiß, keine Katastrophenwinter aus Mangel an Brennholz und keine massiven Wanderungsbewegungen aus holzarmen Regionen.

Joachim Radkau weist darauf hin, dass sich das Gefühl von Holznot möglicherweise herausbildete, als und weil das Holz, das man bis dahin zumindest für den Eigenbedarf großzügig schlagen hatte können, zu einem landesherrlich oder staatlich verwalteten Wirtschaftsgut wurde.55 Die Klage wäre insofern keine Aussage über die Menge an verfügbarem Holz, sondern eine Äußerung des Widerwillens gegen den ökonomischen Umgang damit gewesen.56 Wenn es also Holzknappheit gab, dann war es keine ökologische, sondern eine wirtschaftliche, ja eine politisch gewollte Knappheit.57

Es verwundert ein wenig, dass es bis in die 1980er Jahre gedauert hat, bis die Annahme einer (drohenden) Holznot hinterfragt wurde. Denn zeitgenössisch gab es durchaus kritische Stimmen, die die Holznot bestritten, ja sich über die immerwährende Sorge regelrecht lustig machten.58 Schon Carlowitz verspürte die Notwendigkeit, sich mit den Kritikern auseinanderzusetzen. Die Abschnitte 5 und 6 im vierten Kapitel von Buch I der Sylvicultura oeconomica sind überschrieben mit “Der wieder den Holtzmangel gemachte Einwurff wird abgelehnet.”59

Schluss

Je mehr man über Holznot und Holzmangel liest, umso mehr beschleicht einen der Verdacht, dass diese Begriffe zu Schlagwörtern verkamen, die durch ständige Wiederholung weitgehend in ihrer Aussagekraft entwertet wurden.

Fast so wie heute die Nachhaltigkeit.

Aber auch das ist nichts Neues. In den 1880er Jahren schrieb der preußische Forstmann Bernhard Borggreve:60

“Mit den vereinzelten Definitionen [von Nachhaltigkeit], welche wir finden, lässt sich wenig oder – wenn man lieber will – alles machen.”


1 So auch Grober, S. 16; Uekötter, S. 366.

2 So auch stolz die aktuelle 3. Bundeswaldinventur (2012) des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft auf S. 4.

3 Hamberger in Carlowitz, S. 9.

4 Grober, S. 19 f. und S. 259-268; Hamberger in Carlowitz, S. 10-12; Kehnel, S. 63 f.; Uekötter, S. 63 und S. 366-368.

5 Hamberger in Carlowitz, S. 9; Kehnel, S. 64 f.; Uekötter, S. 63.

6 “Esse” bedeutet hier “Wesen” oder “Dasein”: Hamberger in Carlowitz, S. 9. Grober, S. 119, führt es auf Spinozas “suum esse conservare” zurück.

7 Carlowitz, S. 216 (im Original S. 105 f. in Buch 1, Kapitel 7, Abschnitt 20).

8 Thomasius/Bendix, S. 85.

9 Hamberger in Carlowitz, S. 44; Kehnel, S. 64; Uekötter, S. 64.

10 Grober, S. 106; Kehnel, S. 64. Die Welthauptstadt des Silberbergbaus war Potosí im heutigen Bolivien.

11 Hamberger in Carlowitz, S. 44; Hasel, S. 251; Kehnel, S. 64; Radkau, S. 90 und 93 f.; Reith, S. 48; Uekötter, S. 64.

12 Uekötter, S. 72.

13 Fuhrmann, VSWG 2013, 326; Grober, S. 111; Radkau, S. 95, 97 und 155; Radkau, VSWG 1986, 23.

14 Hasel, S. 222 und 251; Radkau, S. 99; Reith, S. 48.

15 Hamberger in Carlowitz, S. 24 und 33 f.; Hasel, S. 222.

16 Hamberger in Carlowitz, S. 18; Hasel, S. 222; siehe auch die kapitelweise Zusammenfassung durch Hamberger in Carlowitz, S. 48-87.

17 Hamberger in Carlowitz, S. 25.

18 Dazu auch Radkau, S. 126-130.

19 Grober, S. 114; Hamberger in Carlowitz, S. 28 f.

20 Grober, S. 115 f.

21 Hamberger in Carlowitz, S. 26 und Uekötter, S. 63 vermuten, die Formulierung sei Carlowitz “herausgerutscht”.

22 Hamberger in Carlowitz, S. 26 f. mit Abdruck der Originalseite in Fraktur.

23 Hamberger in Carlowitz, S. 26.

24 Grober, S. 115; Hamberger in Carlowitz, S. 26.

25 Siehe z.B. Sylva (1664)von John Evelyn: Grober, S. 87-97; Radkau, S. 72 und 133. Zeitgleich gab es in Japan ähnliche Ideen: Grober, S. 120 f.

26 Hamberger in Carlowitz, S. 34.

27 Hamberger in Carlowitz, S. 41-43; Uekötter, S. 70.

28 Grober, S. 113; Hamberger in Carlowitz, S. 24 f.; Hasel, S. 222.

29 Grober, S. 113; Hamberger in Carlowitz, S. 25.

30 Grober, S. 98-104.

31 In den letzten Jahrzehnten sind mehrere Reprints (dazu Hamberger in Carlowitz, S. 12, Fn. 20) und annotierte Ausgaben der Sylvicultura oeconomica sowie unzählige Zeitungsartikel und Aufsätze zu Carlowitz erschienen.

32 So z.B. Kehnel, S. 65, nach der Carlowitz “die Nachhaltigkeitsidee des 21. Jahrhunderts vorwegnahm”.

33 Demandt, S. 270 f.; Küster, S. 185; Uekötter, S. 64.

34 Hamberger in Carlowitz, S. 23; Hasel, S. 222.

35 Zitiert nach Hamberger in Carlowitz, S. 23.

36 Hamberger in Carlowitz, S. 23 und 25 (dort Verweise auf konkrete Textstellen in Fn. 36).

37 Hasel, S. 222.

38 Hamberger in Carlowitz, S. 18 und 23; Uekötter, S. 65.

39 Hamberger in Carlowitz, S. 18, 23 und 28.

40 Carlowitz S. 150-162 (im Original S. 40-53).

41 Hasel, S. 109 und 187; Radkau, S. 99; Radkau, VSWG 1986, 1, 5 und 12 f.

42 Hasel, S. 187 und 251; Reith, S. 46.

43 Zum Teil auch in der neueren Literatur, z.B. Fuhrmann, VSWG 2013, 311; Grober, S. 83, 88 und 111; Hasel, S. 77, 109, 116, 187 und insbesondere 250; Küster, S. 193; Uekötter, S. 65. Auch das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft schreibt in der aktuellen 3. Bundeswaldinventur (S.5), Deutschland sei Anfang des 19. Jahrhunderts von “kahle[n] und wüste[n] Flächen” geprägt gewesen.

44 Uekötter, S. 66.

45 Hasel, S. 250; Radkau, S. 27, 142-145 und 150-162; Radkau, VSWG 1986, 28-31; Uekötter, S. 66 f. Weil sich diese Diskussion hauptsächlich um die beginnende Industrialisierung, die Steinkohle und das marktliberale Denken dreht, fällt sie allerdings weitgehend aus dem zeitlichen Rahmen dieses Seminars zum Spätmittelalter und zur Frühen Neuzeit. Deshalb gehe ich darauf nicht im Detail ein.

46 Hasel, S. 109.

47 Radkau, S. 38 und 94.

48 Radkau, S. 94.

49 Diagramm aus Peter POSCHLOD: Geschichte der Kulturlandschaft, Ulmer Verlag, 2015.

50 Radkau, VSWG 1986, 13.

51 Radkau, VSWG 1986, 18 und 34.

52 Radkau, S. 130 und 151; Radkau, VSWG 1986, 24 und 36. Radkau, S. 154, weist darauf hin, dass Holz anders als Getreide nicht abrupt durch Hagelschlag oder eine Missernte vernichtet werden kann.

53 Radkau, S. 151.

54 Fuhrmann, VSWG 2013, 326; Radkau, S. 96 und 154; Radkau, VSWG 1986, 23.

55 Radkau, VSWG 1986, 7 f.

56 Radkau, VSWG 1986, 7, 21 und 36.

57 Radkau, S. 152 und 170.

58 Radkau, VSWG 1986, 28-31.

59 Carlowitz, S. 153 (im Original S. 43 f.).

60 Zitiert nach Grober, S. 177.


Literatur

Hans Carl von CARLOWITZ: Sylvicultura oeconomica oder Haußwirthliche Nachricht und Naturmäßige Anweisung zur Wilden Baum-Zucht, mit einer Einführung von Joachim Hamberger, Oekom Verlag, 2013. (Soweit ich gesehen habe, ist dies die am sorgfältigsten editierte Ausgabe.)

Alexander DEMANDT: Der Baum: Eine Kulturgeschichte, Böhlau Verlag, 2. Auflage 2014.

Bernd FUHRMANN: Holzversorgung, Waldentwicklung, Umweltveränderungen und wirtschaftliche Tendenzen in Spätmittelalter und beginnender Neuzeit, Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte (VSWG), 2013, S. 311-327.

Ulrich GROBER: Die Entdeckung der Nachhaltigkeit. Kulturgeschichte eines Begriffs, Verlag Antje Kunstmann 2010.

Karl HASEL: Forstgeschichte. Ein Grundriß für Studium und Praxis, Verlag Paul Parey, 1985.

Annette KEHNEL: Wir konnten auch anders. Eine kurze Geschichte der Nachhaltigkeit, Karl Blessing Verlag, 2021, auch erschienen als günstige Sonderausgabe der Bundeszentrale für Politische Bildung.

Hansjörg KÜSTER: Geschichte des Waldes. Von der Urzeit bis zur Gegenwart, C.H.Beck, 1998/2003 (gebunden/broschiert).

Joachim RADKAU: Holz. Wie ein Naturstoff Geschichte schreibt, Oekom Verlag, Neuauflage 2012.

Joachim RADKAU: Zur angeblichen Energiekrise des 18. Jahrhunderts. Revisionistische Betrachtungen über die “Holznot”, Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte (VSWG), 1986, S. 1-37.

Reinhold REITH: Umweltgeschichte der Frühen Neuzeit, Enzyklopädie Deutscher Geschichte, Band 89, Oldenbourg Verlag, 2011.

Harald THOMASIUS / Bernd BENDIX: Sylvicultura oeconomica. Transkription in das Deutsch der Gegenwart, Verlag Kessel 2023.

Frank UEKÖTTER: Im Strudel. Eine Umweltgeschichte der modernen Welt, Campus Verlag, 2020, auch erschienen als günstige Sonderausgabe der Bundeszentrale für Politische Bildung.


Jetzt muss ich noch eine kleine schriftliche Arbeit über die Sylvicultura oeconomica verfassen, und dann geht es im Sommersemester um die europäische Expansion und außereuropäische Schriftkulturen, also Sprache und Schrift im Dienst kolonialer Macht und christlicher Mission sowie die Interaktion europäischer und außereuropäischer Sprachen. Womit man sich halt so den Sommer vertreibt, wenn man lieber in die Bibliothek als ins Freibad geht. 🤓 

Veröffentlicht unter Deutschland, Geschichte, Wirtschaft | Verschlagwortet mit , | 13 Kommentare

Winke, winke

Der Zug von Elsterwerda nach Chemnitz legt jedes Mal einen zehnminütigen Stopp in Riesa ein, was den Ort wichtiger erscheinen lässt, als er ist.

Vielleicht muss der Lokführer aber auch einfach mal eine Zigarette rauchen.

Die meisten Tabakgegner und Bahnkritiker wissen das nicht, aber ein erheblicher Teil der Verspätungen im Zugverkehr geht darauf zurück, dass man während der Fahrt nicht mehr rauchen darf. Ist ja logisch, dass dann das gestresste Personal hin und wieder einen Halt an frischer Luft einlegen muss.

Dieses Mal steigen in Riesa tatsächlich eine ganze Menge Menschen aus, um und ein. Der Zug ist rappelvoll. Viele junge Leute mit großen Rucksäcken und wilden Bärten, die anscheinend alle an die Universität fahren und sich noch von der Schule zu kennen scheinen.

Eine Studentin wurde von ihrer Großmutter zum Zug begleitet, was ein bisschen anachronistisch, ja vielleicht sogar peinlich erscheinen mag. Aber vielleicht war die Großmutter einst im Königreich Sachsen oder in der Weimarer Republik eine Vorkämpferin gleicher Bildungschancen für Mädchen, Fräulein und Frauen und freut sich, dass ihre Enkelin jetzt Physikerin oder Germanistin wird.

Der Studentin werden die 10 Minuten sichtlich lang, denn die Oma steht noch immer vor dem Fenster und winkt und winkt und winkt. Wie so eine japanische Manekinekokatze, die immer trotzig und traurig in sonst leeren Schaufenstern von schon lange aufgegeben Läden in der ländlichen Lausitz winken.

Photo by Sarah Trummer on Pexels.com

Die Studentin versucht abzulenken, indem sie – genauso stolz wie die Oma auf ihre feministische Frontkämpferinnenvergangenheit – von ihrem Auslandssemester in Schweden erzählt. Die anderen Studenten im Abteil sind höchst interessiert oder tun zumindest als ob. Das weiß man heutzutage nicht mehr so genau, weil die jungen Menschen so verdammt wohlerzogen und höflich sind.

Eine etwas ältere Frau aus der Generation, wo man noch weniger Wert auf Höflichkeit legte und stattdessen der Direktheit frönte, weist die junge Akademikerin mit leichtem Spott in der Stimme darauf hin: „Die Oma winkt immer noch.“

Ich, stets diplomatisch, versuche die Situation zu entschärfen und sage – ganz trocken und ohne den Blick von der Zeitung hochzunehmen: „Kann man verstehen. Das ist ja die Generation, die es gewohnt ist, dass Menschen, die in den Zug steigen, erst nach 5 Jahren wiederkommen.“

Und, weil keine Reaktion erfolgt: „Oder gar nicht mehr.“

Eisiges Schweigen. Leere, verstörte Blicke.

Jetzt erst lächle ich in die Runde. „Kleiner Historikerscherz“, sage ich, um die Situation zu entschärfen.

Aber es nützt nichts. Bei Eisenbahnen verstehen die Deutschen keinen Spaß.

Links:

Veröffentlicht unter Deutschland, Geschichte, Reisen | Verschlagwortet mit , , | 4 Kommentare

Verbot der gendergerechten Sprache

Wenn schon Sprachpolizei, dann bitte gegen völlig überflüssige Apostrophe!

Fotografiert in Ahrensfelde, dem mit Abstand hässlichsten und deprimierendsten Stadtteil Berlins. Wie eine Missgeburt von Magnitogorsk und Mühlheim, ausgesetzt hinter Marzahn.

Allerdings beginnt dort der Wuhletalweg, einer der Grünen Hauptwege von Berlin, und der war dann doch ganz akzeptabel. Ausführlicher Bericht folgt!

Veröffentlicht unter Deutschland, Sprache | Verschlagwortet mit | 15 Kommentare

Tsunami-Warnung in Sachsen

Nach furchteinflößenden Tsunami-Erfahrungen in der Südsee bin ich extra ins Erzgebirge gezogen, möglichst weit weg von Küstengewässern, Sturmfluten und anderen Meeresungetümen.

Und dann muss ich feststellen, dass auch in Sachsen die Tsunami-Gefahr lauert:

(Fotografiert in der Nähe der Saidenbach-Talsperre.)

Veröffentlicht unter Deutschland, Fotografie | Verschlagwortet mit | 5 Kommentare

Deportation

Ein beklemmender Moment, als ich die E-Mail eines Mandanten in einem Staatsangehörigkeitsfall öffne und schon beim ersten Überfliegen an diesem Satz hängenbleibe:

Ich habe auch die Dokumente über die Deportation meines Ururgroßvaters von Hamburg nach Lodz im Jahr 1941 und seine Sterbeurkunde von 1942 beigefügt.

Das relativiert wirklich einige der Probleme, mit denen ich sonst so konfrontiert werde.

Veröffentlicht unter Deutschland, Geschichte, Holocaust, Polen, Recht | Verschlagwortet mit , , | 4 Kommentare

Eine Scheidung in den Schluchten des Balkans

Read this in English.

Die Mandantin möchte eine Scheidung.

Sie lebt seit mehr als 15 Jahren getrennt. Der Mann ist damals verschwunden, sie hat keinen Kontakt mehr. „Irgendwo in den Bergen des Balkans, Kosovo, Montenegro oder so. Den findet keiner“, sagt sie.

Außerdem sei er höchst gefährlich, irgendwas mit Bandenkrieg und Schusswaffen. Leichen pflastern den Lebensweg.

Ist klar, dass mich so etwas reizt.

Schon sehe ich mich die Gipfel des Durmitor erklimmen und die Tara-Schlucht durchschwimmen. Ich packe den Rucksack, freue mich auf Wochen des Durchfragens von Dorf zu Dorf, immer auf der Suche nach Herrn ….. und auf der Hut vor den Häschern der Heiducken.

Stromleitung

Aber, Due Diligence muss sein, vorher suche ich den Verschollenen im Internet.

Nach wenigen Minuten habe ich ihn gefunden. Ich schreibe ihm. Er ruft sofort zurück, wir unterhalten uns angenehm. Er stimmt der Scheidung natürlich zu, alles überhaupt kein Problem.

Eigentlich schade, dass es so einfach ging.

Außerdem hätte ich gerne das Gesicht des Kostenbeamten beim Amtsgericht Hoyerswerda gesehen, wenn ich bei der Abrechnung der Gebühren drei Wochen Balkan-Reise angeführt hätte.

Links:

Veröffentlicht unter Familienrecht, Montenegro, Recht, Reisen | Verschlagwortet mit , , | 14 Kommentare

Deutschland auf Drogen: die Legalisierung von Cannabis

Read this in English.

Den Leserinnen und Lesern dieses Blogs wird aufgefallen sein, dass ich eher der konservativ-spießige Typ bin. Deshalb habe ich natürlich keinerlei Erfahrungen mit illegalen Drogen. Sogar die Dealer merken das stets mit Kennerblick, weshalb mir nur äußerst selten etwas von dem grässlich stinkenden Kraut angeboten wird. (Eigentlich nur während globaler Wirtschaftskrisen, wie in Kapitel 31 meines Berichts aus Lissabon.)

Ich kenne zwar nicht den Unterschied zwischen Cannabis, Marihuana, Haschisch und Bubatz, und weiß nicht, was davon man raucht, inhaliert, spritzt oder als Kekse futtert. Jedenfalls bin ich dagegen. Gegen alles.

Aber auch als konsequenter Rauschmittelgegner und als Freund des klaren Kopfes muss man irgendwann einsehen, dass der Kampf verloren ist. Man kann ja keinen dauerhaften Drogenkrieg gegen die eigene Bevölkerung führen.

Polizeikommissariat Buxtehude beim Einsatz gegen jugendliche Kiffer.

Außerdem erscheint es mir unverhältnismäßig, Menschen für etwas ins Gefängnis zu stecken, das weit weniger Tote verursacht als der Alkohol, der Straßenverkehr, bissige Hunde und – ironischerweise – der Krieg gegen die Drogen. Die begrenzte und teure Arbeitskapazität von Polizei, Staatsanwaltschaft, medizinischen Gutachtern, Rechtsanwälten, Gerichten und Strafvollzug könnte man wahrscheinlich sinnvoller einsetzen, als Haschisch-Hippies über die Hasenheide zu hetzen.

Die Drogenfahndung fällt in Berlin-Neukölln ein.

Kurzum: Nicht alles, was stinkt und stört, muss deshalb gleich strafbar sein.

Genau das hat sich unsere sympathische Bundesregierung gedacht, und deshalb nach dem Gute-Kita-Gesetz ein Gutes-Kiffen-Gesetz auf den Weg gebracht, das der Bundestag kürzlich als Cannabisgesetz verabschiedet hat.

Heraus kam, wie soll es anders sein in Deutschland, eine Zwischenlösung. Es darf mehr geraucht werden als bisher, aber natürlich nicht alles, nicht immer, nicht überall und nicht von jedem. Wir liegen also irgendwo zwischen Woodstock und Singapur.

Weil ich zwar keine Klage-, aber eine Fragewelle befürchte, will ich im Folgenden die wichtigsten Neuerungen zusammenfassen.

Bis zu einer Menge von 25 Gramm wird der Besitz von Cannabis legal. Weil ich selbst noch nie von dem Gras probiert habe, weiß ich gar nicht, ob das viel oder wenig ist. Ich bin ja eher schokoladensüchtig, und da halten 25 Gramm gerade mal für eine halbe Stunde her.

Allerdings gilt das nur für Erwachsene und nur zum Eigenkonsum. Kinder und Jugendliche müssen weiterhin auf Bier oder andere Alkoholika ausweichen. Eigenkonsum bedeutet, dass Ihr den Stoff nicht verkaufen, aber auch nicht verschenken oder teilen dürft. Insofern haben es die Cannabis- also besser als die Tabakraucher, denn letztere können schwer nein sagen, wenn sie um eine „hast du mal ne Fluppe?“ angehauen werden. Wenn jemand hingegen an Eurem Joint ziehen will, könnt Ihr ganz locker ablehnen: „Tut mir leid, Mann, aber das Gesetz erlaubt nur Eigenkonsum.“

Freunde oder Paare können dennoch gemeinsam mit einem Joint ausgehen, wenn sie diesen vorher in gemeinschaftliches Eigentum umgewidmet haben. Dann können sie ihn auch gemeinsam verkonsumieren. Allerdings darf dieser das Gewicht von 25 Gramm nicht übersteigen, weil sonst derjenige, der ihn bei sich trägt, gegen die Cannabisbesitzobergrenze verstieße.

„Dieses neue Cannabisgesetz macht ja richtig gute Laune!“

Weil der Kauf und Verkauf von Cannabis weiterhin verboten sind, stellt sich natürlich die Frage, woher das Zeug kommen soll. Da setzt Deutschland, wie es sich für ein Volk von Forstwissenschaftlern und Kleingärtnern gehört, auf den Eigenanbau.

Erwachsenen mit Wohnsitz oder gewöhnlichem Aufenthalt in Deutschland ist, wenn sie diesen seit mindestens 6 Monaten innehaben, die artgerechte Haltung von drei Cannabispflanzen in der Wohnung gestattet. Diese drei Pflanzen dürfen zusätzlich zu den 25 Gramm gehalten werden, solange sie ungeerntet bleiben oder der aus der Ernte erzielte Cannabisertrag weitere 25 Gramm nicht übersteigt. Es bietet sich also die gute alte Dreifelderwirtschaft an, so dass die drei Pflanzen zu unterschiedlichen Zeiten erntebereit sind. Wichtig ist aber, dass von keiner einzelnen Pflanze jemals mehr als 25 Gramm abgeerntet werden dürfen.

Da diese drei Pflanzen je erwachsener Person im Haushalt gelten (wenn diese seit mindestens 6 Monaten dort lebt), können Paare oder Wohngemeinschaften natürlich mehr Pflanzen züchten, wobei eine klare Zuordnung von jeder Pflanze zu einer bestimmten Person wichtig ist.

Wie das Foto insinuiert, nehme ich an, dass demnächst viele Menschen an ihre bisher vernachlässigten Großeltern und andere entfernte Verwandte denken werden: „Oma, du hattest doch immer so einen grünen Daumen! Kann ich bei dir diese Pflanzen unterstellen?“ Diese unerwarteten gesellschaftlichen Nebenwirkungen sind für mich immer das Interessanteste an neuen Gesetzen.

Wenn Kinder oder Jugendliche im Haus sind, müssen die Pflanzen jedoch in Räumen aufbewahrt werden, zu denen die kleinen Racker keinen Zutritt haben. Weil die Vorschriften zur artgerechten Haltung jedoch erfordern, dass die Pflanzen dem Sonnenlicht ausgesetzt sind und deshalb mit Blick auf ein (alle zwei Monate zu putzendes) Fenster nach Süden, Südosten oder Südwesten ausgerichtet sind, wird man sich in der Praxis, insbesondere bei kleinen Wohnungen, oft entscheiden müssen: Kinder oder Kiffen. Ich prognostiziere einen Geburtenrückgang.

Gefährlich wird es zudem, wenn ein Elternteil verstirbt. Denn dann erben im Normalfall der Partner und die Kinder. Nach dem Grundsatz der Universalsukzession geht das Erbe im Moment des Todes unmittelbar auf die Erben über, ohne weiteren Gestaltungsakt, ohne Notwendigkeit der Zustimmung. Und, schwupp, sind die Kinder Eigentümer einer Drogenplantage. Bei Kindern unter 14 ist das Problem gering, denn die sind noch nicht strafmündig. Aber Teenager stehen schon mit einem Bein im Knast.

Vorsicht ist auch beim Aus- oder Umzug angebracht: Weil man in der Öffentlichkeit nicht mehr als 25 Gramm Cannabis bei sich führen darf, kann man eigentlich kaum mit drei trächtigen Pflanzen gleichzeitig umziehen. Verschenken darf man sie aber auch nicht, weil das kein Eigenkonsum wäre. Man muss also sukzessive umziehen oder die Pflanzen vernichten. (Ich kenne das nur von anderen Pflanzen, aber soweit ich es ausprobiert habe, geht das, indem man sie mehrere Wochen lang nicht gießt.)

Jetzt wollen natürlich alle wissen: Woher bekommt man die Samen oder Stecklinge für den Eigenanbau? Die kann man zum einen bestellen, sogar übers Internet, allerdings nur aus EU-Mitgliedsstaaten. Außerdem kann man, auch als Nichtmitglied, zu einer sogenannten Anbauvereinigung, gehen und dort bis zu sieben Cannabissamen oder bis zu fünf Stecklinge, insgesamt jedoch maximal fünf Samen und/oder Stecklinge, von denen maximal drei zu vollwertigen Pflanzen heranreifen dürfen, erwerben.

Und damit sind wir schon bei den Anbauvereinigungen. Das ist eine Form der landwirtschaftlichen Genossenschaft, die zumindest für die Ostdeutschen unter uns gar nicht so neu ist. Volkstümlich werden diese Vereine wahrscheinlich eher als Cannabis-Clubs bekannt werden.

Bisher waren die vorgestellten Regelungen ja ziemlich locker-fluffig-liberal, fast schon anarchistisch. Aber bei den Cannabis-Clubs kommt das Vereinsrecht ins Spiel, und da ist Schluss mit lustig. Die Anbauvereinigungen dürfen nur als nicht-gewerbliche Vereine oder Genossenschaften betrieben werden, müssen eingetragen sein und benötigen eine behördliche Erlaubnis zum Cannabis-Anbau. Die Vereine dürfen höchstens 500 Mitglieder haben, die allesamt volljährig und seit mindestens 6 Monaten ihren Wohnsitz in Deutschland haben müssen. Sie dürfen das Cannabis ausschließlich an ihre Mitglieder abgeben, die die Gärtnerei auch selbst und eigenhändig, jedoch kollektiv übernehmen müssen.

Gründungsversammlung einer Anbauvereinigung

Jedes Mitglied darf aus diesem kollektiven Anbau pro Tag nicht mehr als 25 Gramm und pro Monat nicht mehr als 50 Gramm Cannabis beziehen. Mitglieder zwischen 18 und 21 Jahren dürfen pro Monat nur 30 Gramm erhalten, allerdings nur bis zu einem THC-Gehalt von 10%. Wenn ein Mitglied im Laufe eines Monats 18 oder 21 Jahre alt wird, so wird die monatliche Bezugshöchstmenge im Verhältnis des Quotienten zwischen Alter, Anzahl der Tage im betreffenden Monat und 30 bzw. 50 Gramm angepasst. Bei Mitgliedern, deren Geburtsort mehr als sechs Zeitzonen östlich der Mitteleuropäischen Zeit liegt, wird der Geburtstag nicht mitgerechnet.

Außerdem benötigen die Vereine ein Jugendschutzkonzept (obwohl sie keine jugendlichen Mitglieder aufnehmen dürfen), einen Präventionsbeauftragten, ausschließlich nicht vorbestrafte Vorstandsmitglieder, einen mindestens 2,24 Meter (bzw. im Saarland 1,78 Meter) hohen und blickundurchlässigen Zaun um die Plantage, ein Abwasserschutzkonzept, ein Sicherheitskonzept, einen Lieferkettenbeauftragten, ein Vereinsheim, eine Fahne und einen peinlichen Namen wie „Kiffhäuser“, „Highmatverein“ oder „Hanf im Glück“.

Gewerbeaufsichtsamt Dinkelsbühl bei der Kontrolle einer Anbauvereinigung

Das Areal zum Anbau muss einen Abstand von mindestens 200 Metern zu Schulen, Kindergärten, Spielplätzen, Krankenhäusern u.s.w. haben. Lost-Places-Experten wie ich sind derzeit sehr gefragt, um geeignete Areale wie alte Fabrikhallen aufzutreiben. Ich erwarte hier insbesondere in den ostdeutschen Bundesländern einen enormen Boom, aber ganz generell eine Stärkung des ländlichen Raums.

Auf dem Gelände der Cannabis-Clubs darf übrigens kein Cannabis konsumiert werden. Das wäre ja noch schöner. Außerdem darf dort, anders als im Bundestag, kein Alkohol ausgeschenkt werden.

Ach ja, die wichtigste Frage hätte ich fast vergessen: Wo darf man die 25 Gramm eigentlich rauchen? Zum einen natürlich zuhause. Aber nur, wenn keine Kinder oder Jugendlichen in der Nähe sind. Auch nicht, wenn Kinder oder Jugendliche zusehen könnten, z.B. aus dem Nachbarhaus, von der Straße oder vom vorbeifahrenden Zug aus.

Dafür darf in der Öffentlichkeit frei gekifft werden. Man muss lediglich einen Abstand von 100 Metern zu Schulen, Kindergärten, Spielplätzen, Kinder- und Jugendeinrichtungen, Sportstätten, Kirchen und Kasernen einhalten. In der Fußgängerzone darf erst ab 20 Uhr, aber dann bis 6:59 Uhr gekifft werden.

Zu den Abständen gibt es eine interaktive Karte, in der Ihr Euren Wohnort auf Drogentauglichkeit testen könnt. Man ist überrascht, wie viele Kindergärten und Spielplätze es in der Nachbarschaft gibt, die einem vorher noch gar nicht aufgefallen waren.

Ich habe das mal für meine Wohnung in Chemnitz getestet. Die roten Zonen sind Verbotszonen. Man erkennt hier den Vorteil, in Waldnähe zu wohnen. Würde mich nicht wundern, wenn ich demnächst im Zeisigwald mehr Menschen als bisher begegne.

Zum Vergleich habe ich auch nach dem Dorf gesehen, in dem ich aufgewachsen bin. Der Unterschied ist eklatant und verdeutlicht die Vorteile des ländlichen Raums.

Für die Berliner würde sich das wunderschöne Müggelheim anbieten.

Allerdings ist zu berücksichtigen, dass diese Karten mit automatisch generiertem Material arbeiten, also viele Kinder- und Jugendeinrichtungen und auch Sportstätten übersehen. Am sichersten seid Ihr echt in der Natur. Außer, es kommt gerade eine Schulklasse vorbei. Oder ein Schulbus.

Grundsätzlich sind an Schultagen von 6:30 bis 8:30 und von 12:15 bis 16:30 Uhr auch alle Bushaltestellen, wo Schulbusse halten, cannabisfrei zu halten. Außer in den Schulferien. Wenn die Schule ausfällt, z.B. wegen Hochwasser, entfällt der Kinder-Cannabis-Schutz nur, wenn der Schulausfall mindestens 24 Stunden vorher kommuniziert wurde, weil andernfalls nicht auszuschließen ist, dass ein Kind nicht mitbekommen hat, dass die Schule ausfällt, und dennoch an der Haltestelle steht. Zu Schulzeiten ist deshalb auch der Cannabiskonsum im Auto verboten, solange man auf einer Strecke fährt, die auch von Schulbussen frequentiert wird. Außer man hat getönte Scheiben. In Thüringen ist der 20. September als Weltkindertag und gesetzlicher Feiertag rauchfrei. Sonderregelungen gelten zudem in den norddeutschen Bundesländern bei Windstärken von mehr als 6 Beaufort. Dann wird die 100-Meter-Zone der Windrichtung angepasst. Bei Westwind wird sie z.B. um 20 Meter pro Beaufort-Punkt nach Osten verschoben. Ferienorte, Kurorte, kirchliche Einrichtungen, selbständige Körperschaften des öffentlichen Rechts, Universitäten, nicht als Kirchen anerkannte Glaubensgemeinschaften, NATO-Truppenübungsplätze, das Deutsche Patent- und Markenamt, Botschaften, Konsulate, Handwerkskammern, Deichverbände, Skilifte und die Wasserstraßen- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes können eigene Richtlinien erlassen, die sich jedoch (außer bei Bundesbehörden oder ausländischen, supranationalen und internationalen Einrichtungen) an die Verwaltungsvorschriften des jeweiligen Bundeslandes halten müssen. In Gebieten mit erhöhter Radonbelastung im Boden und in ehemaligen Uranabbaugebieten, beides vor allem im Erzgebirge relevant, darf erst ab dem 2. Stock aufwärts geraucht werden.

Was meiner Meinung nach nicht ausreichend geklärt ist: Wie ist es im Grenzgebiet, wenn im Bundesgebiet in einem Radius von 100 Metern keine verbotene Einrichtung besteht, aber in weniger als 100 Metern Entfernung auf der polnischen, belgischen oder tschechischen Seite ein Kindergarten oder ein Spielplatz ist?

Jedenfalls wird das Kiffen jetzt richtig spießig und bürokratisch. Ich selbst bleibe daher beim Tabak, wo man sich auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum „Rauchen im Walde“ berufen kann. Dies gehöre demnach, entgegen der Meinung der Gebrüder Grimm, zum Schutzbereich der freien Entfaltung der Persönlichkeit nach Art. 2 I GG.

Links:

  • Mehr Berichte aus Politik und Recht.
  • Und weitere wilde Drogengeschichten.
  • Wie Ihr merkt, habe ich keine Ahnung vom Betäubungsmittelrecht. Aber bei den wirklich wichtigen Rechtsfragen helfe ich gerne. (Ich fürchte allerdings, dass jetzt Tausende von Anfragen zur Tilgung von Vorstrafen wegen früherem Cannabis-Konsum oder -Besitz kommen. Das wird nämlich grundsätzlich möglich, allerdings fast so kompliziert wie die Gründung einer Cannabisanbauvereinigung.)
Veröffentlicht unter Deutschland, Politik, Recht, Strafrecht | Verschlagwortet mit | 20 Kommentare

Ein Blinder zeigt mir den Weg

Böse Zungen, insbesondere solche aus anderen Städten, die das Ergebnis zur Wahl der Europäischen Kulturhauptstadt 2025 noch immer nicht verwunden haben, behaupten oft, Chemnitz sei die größte Stadt in Deutschland ohne Anbindung an den Schienenfernverkehr.

Ganz abgesehen davon, dass es schon Europäische Kulturhauptstädte gab, die gar keinen Eisenbahnanschluss haben, stimmt es einfach nicht. Zum einen kommt man natürlich auch von Chemnitz mit ein oder zwei Umstiegen fast an jeden Bahnhof Europas oder Asiens. Zum anderen fahren jeden Tag Intercity-Züge von Chemnitz nach Warnemünde. Und weil die ostdeutschen Bundesländer ein Herz für Bahnfahrer:innen haben, legen sie eine Extraschippe Kohle drauf, so dass man die Schnellzüge sogar mit dem Deutschlandticket nutzen kann.

Warnemünde liegt an der Ostsee, und der Zug ist voll mit Reisenden, die sich auf den Strand freuen. Riesige Koffer haben sie gepackt, mit Badesachen und Bikinis, Taschenbüchern und Taucherbrillen. Die Kinder rennen wie von der Tarantel oder vom Seestern gestochen durch den Zug. Der Schaffner bringt Cappuccinos und Coca-Colas an den Platz. Man ist irgendwo zwischen Elsterwerda und Doberlug-Kirchhain, aber die Gedanken schwelgen bereits auf der Fähre nach Finnland oder am Frühstücksbuffet im FDGB-Ferienheim.

Ein älterer Mann ist erkennbar blind. Weißer Stock, drei Punkte, aber sympathisch. „Offener Blick“ würde ich schreiben, aber das ist ja irgendwie unpassend bei einem Blinden.

Er sitzt gegenüber zwei Jugendlichen, die zwar noch ihre Sehkraft, aber dafür keinen Blick für nichts haben. Zumindest nicht für ihre Mitmenschen. Jeder von ihnen trägt einen riesigen Kopfhörer und taucht ab in ferne Hip-Hop-Welten, oder was immer die Jugend von heute so hört. Aber ich will nicht vorschnell urteilen, vielleicht sind es Studenten und sie lauschen aufmerksam dem jüngsten Vortrag von Professor Heisenberg oder einer Vorlesung über die Geschichte des Rassismus. Oder sie lernen Fremdsprachen, das soll ja sinnvoll sein. Außer Uigurisch, dafür kommt man ins Umerziehungslager.

Weil ich keine konversationshemmenden Kopfhörer trage, spricht mich ein junger Mann an.

„Chemnitz?“ fragt er.

„Ja, ich komme aus Chemnitz“, bestätige ich und erzähle, dass ich zwar ursprünglich nicht von dort, sondern aus Bayern komme, dass ich aber, nach Jahren der Wanderschaft, mich im vergangenen Jahr in Chemnitz niedergelassen habe, dass es mir dort super gefalle, und zähle einzeln, detailliert und umfangreich – aber nicht abschließend – einige der Gründe auf, warum es mir dort gefällt. Nach etwa drei Minuten Monologisieren fällt mir ein, dass das als unhöflich oder egozentrisch interpretiert werden könnte, und frage den jungen Mann, ob er ebenfalls aus Chemnitz sei.

„Sorry, no German“, antwortet er hilflos und sieht mich etwas ängstlich an.

„Oh, that’s not a problem“, repliziere ich weltmännisch und unterbreite meinen eben schon vorgetragenen Sermon auf Englisch, wo er allerdings fünf statt drei Minuten in Anspruch nimmt, weil bekanntermaßen keine der vielen Sprachen dieser Welt zu so kurzer, knapper und bündiger Kommunikation einlädt wie das Deutsche und weil ich außerdem, wenn wir uns schon in dieser Weltsprache unterhalten, ein bisschen von meinen Weltreisen erzählen muss. Am Ende frage ich ihn wieder, ob er auch aus Chemnitz sei.

„Chemnitz?“ fragt er, und endlich merke ich, dass er weder Deutsch noch Englisch spricht.

Mittlerweile bin ich schlauer geworden und frage ihn, welche Sprache er spricht. Er versteht die Frage nicht. Nicht auf Deutsch, nicht auf Englisch, nicht auf Spanisch, nicht auf Italienisch, nicht auf Französisch, nicht auf Rumänisch.

Da zückt er sein Handy, zeigt mir einen Zugfahrplan, laut dem er in einem Zug von Elsterwerda nach Chemnitz sitzen sollte. Jetzt verstehe ich seine Frage!

Leider sitzt er im genau in die entgegengesetzte Richtung fahrenden Zug, von Elsterwerda nach Berlin, Rostock und Warnemünde. Weg von Chemnitz. Ich erkläre mit Handzeichen und Kopfschütteln, dass er nach Süden muss, aber nach Norden reist. Er ist, das muss ich jetzt so hart sagen, leider keiner, der blitzschnell kapiert.

Ich hingegen, naja, ich will mich jetzt nicht selbst loben, aber mir kommt die Idee, sein Handy genauer zu inspizieren, weil man daraus vielleicht ablesen kann, in welcher Sprache der junge Mann parlieren könnte. Und tatsächlich: Der Bildschirm ist mit einer Schrift übersäht, die den Älteren von uns aus den Tagen der Phönizier und Nabatäer bekannt ist. Damit ist das Rätsel gelöst: Er muss also Arabisch, Persisch, Paschtu, Pandschabi oder Urdu sprechen.

Photo by Enes Cou015fkun on Pexels.com

„?العربية“ frage ich und achte darauf, das Fragezeichen richtig zu setzen, weil man im Arabischen bekanntermaßen von rechts nach links spricht.

„نعم“ antwortet er und rächt sich für meine vorherigen Redeschwalle mit einem ebensolchen in der Sprache des Propheten.

Jetzt bin ich derjenige, der dumm aus dem orientroten Pullover guckt.

Zum Glück sitzt an einem anderen Tisch ein Ehepaar, das Arabisch spricht und sich jetzt einschaltet. Die beiden haben zu zweit so viele und große Koffer dabei, wie anderswo für eine Schulklasse reichen würden. Wahrscheinlich ein reiches Ölscheichpaar, das in Deutschland, nachdem ihnen schon der halbe DAX gehört, auch noch fleißig Souvenirs eingekauft hat. Aber immerhin umweltbewusste Ölscheichs, die mit der zweiten Klasse der Deutschen Bahn reisen.

Zusammen übersetzen, eruieren und lösen wir auf, dass der junge Mann nach Roding will. Das ist in der Oberpfalz, da komme ich her, da kenne ich mich aus. Also erkläre ich – hilfsbereit, wie ich heute aufgelegt bin -, dass er beim nächsten Halt aussteigen und sodann Züge zurück nach Elsterwerda, nach Chemnitz, nach Hof, nach Schwandorf und von dort ins schöne Roding nehmen müsse.

Das ist noch eine ziemliche Tagesreise, aber so lohnt sich das Deutschlandticket wenigstens.

Als ich mich wieder meiner Zeitung zuwende, merke ich, wie die drei Reisenden aus dem Morgenland die Angaben des Weisen aus dem Abendland mit einem kleinen Taschencomputer überprüfen. Das begegnet mir jetzt leider immer öfter, dass Menschen gar nicht mehr glauben, man könne sich ohne Computer zurecht finden. Eigentlich sollte jeden Monat für eine Woche das Internet abgeschaltet werden, damit die Menschheit so Grundfähigkeiten wie Kartenlesen, einen Busfahrplan zu entziffern oder einfach jemanden zu fragen, nicht verlernt.

Der ältere Mann ist zwar blind, aber er hat eine funktionierende Blase. Er steht auf, tastet sich ziemlich sicher durch den Flur in Richtung Toilette. Leider haben die Türen dort keine Griffe mehr, weil irgendein Digitalisierungsdoldi geglaubt hat, dass Türgriffe altmodisch und out seien. Dafür gibt es jetzt Schalter, die die Hälfte der Zeit nicht funktionieren. (Man wünscht diesen Computerfuzzis, dass, wenn sie auf der Toilette sind, einmal für eine Woche der Strom ausfällt und sie die Tür nicht mehr öffnen können.)

Weil ich mich, was Ihr wahrscheinlich schon bemerkt habt, gerne in fremde Angelegenheiten einmische, stehe ich auf und biete dem blinden Mann meine Hilfe an. Ich sehe anhand eines roten Lichts, dass das rollende Badezimmer okkupiert ist, und verspreche, ihm mitzuteilen, sobald es frei wird. Außerdem, und das ist viel wichtiger, sage ich zu, die Toilette vor Eindringlingen zu bewachen, weil der Blinde möglicherweise den Knopf nicht findet, mit dem er das rote Licht anschalten und die Tür blockieren kann.

Auf einer TEDx-Konferenz in Rumänien, bei der ich auch eine kleine Rolle spielte, hatte ich einst einen blinden Programmierer kennengelernt. Vielleicht braucht es viel mehr Blinde in wichtigen Positionen, damit die Welt nicht mit dummen Toiletten, Minenfeldern und Stacheldrahtzäunen zugebaut wird.

Während ich vor der Zugtoilette warte und wache, spricht mich eine ältere Frau mit osteuropäischem Akzent verzweifelt an: „Sagen Sie, hält dieser Zug in Brandenburg?“

„Ich denke schon. Wir fahren ja gerade durch Brandenburg,“ sage ich etwas unsicher, weil meine vorhin gepriesenen Geographiekenntnisse sich im flachen Land verflüchtigen. Ich weiß echt nicht, wie man sich ohne Gebirgsketten orientieren soll. Das sieht ja alles gleich aus, von Ostende bis Königsberg, von der Maas bis an die Memel.

„Wo müssen Sie denn genau hin?“ frage ich.

„Zum Flughafen.“

„In welcher Stadt?“

„Brandenburg.“

Ach so. Jetzt geht mir ein Leuchtfeuer auf. Sie meint den Flughafen Berlin-Brandenburg, was tatsächlich der nächste Halt ist. Ich mache ihr diese freudige Mitteilung, womit ich glaube, die Angelegenheit erledigt zu haben.

„Aber auf der Anzeige steht Flughafen Berlin“, sagt sie zweifelnd.

„Das ist der gleiche Flughafen“, sage ich mit dem ganz besonderen „trust me“-Timbre in der Stimme.

Es hilft nichts, sie will jetzt wissen, warum der angeblich gleiche Flughafen einmal Flughafen Berlin und einmal Flughafen Brandenburg heißt. Zu allem Überfluss mischen sich einige der umstehenden Passagiere ein und behaupten, dass sei der Flughafen Schönefeld. Ein anderer meint, der Flughafen heiße Berlin-Brandenburg, weil Berlin in Brandenburg sei. (Arrghhh!) Und bald erzählen sie Geschichten von Tegel, von Tempelhof, von der Luftbrücke und von der Erfindung der Currywurst.

„Madame,“ denke ich mir nur, „seien Sie einfach froh, dass Sie so wenig wie möglich über diesen Flughafen wissen.“ Denn wer diese Geschichte hört, der muss verzweifeln.

Am Flughafen steigen dann all die Menschen, Koffer und Rucksäcke aus, von denen ich dachte, sie fahren nach Warnemünde an die Ostsee. Tja, anscheinend wollen die Menschen im Februar doch ins Warme. Vielleicht ist die Ostsee auch zu problematisch als Reiseziel. Wegen Peenemünde und dem Raketenprogramm. Ich meine, man macht ja auch keinen Urlaub in Nordkorea, oder?

Der blinde Mann kommt zurück und sagt, dass ich sehr hilfsbereit sei. Das stimmt wohl, deshalb arbeite ich auch in einem sozialen Beruf. Aber die dunkle Wahrheit ist, dass ich Blinden besonders gerne helfe, weil auf der mütterlichen Seite meiner Familie alle Menschen früher oder später erblindet sind. Und weil ich auf einem Genetikgymnasium war, kann ich ausrechnen, mit welcher Wahrscheinlichkeit mir einst das gleiche Schicksal das Augenlicht trüben wird.

Deshalb halte ich nichts von der standardisierten Lebensplanung, bis Mitte 60 zu arbeiten und dann auf ein paar entspannte Jahre im Ruhestand zu hoffen. Denn wenn ich erst blind bin, kann ich nicht mehr um die Welt reisen. Ne, da nutze ich lieber die gesunden Jahre vorher.

„Nächste Station ist der Hauptbahnhof, da muss ich raus“, sagt der Blinde.

„Ich auch. Dann kann ich Ihnen gerne helfen“, biete ich an.

„Vielen Dank, aber das ist nicht nötig“, sagt er und klärt mich auf, dass die Deutsche Bahn, wenn man vorher anruft, Mitarbeiter bereitstellt, die einen vom Zug abholen und zum Bus oder zum Anschlusszug bringen. So wie früher die Gepäckträger beim Orient-Express, als das Reisen noch stilvoll war. Andererseits wurde man da immer ermordet.

Wie ich die stets bahnkritischen Deutschen kenne, würden die sich darüber wahrscheinlich mächtig aufregen. Die machen ja schon jedes Mal ein Riesentamtam, wenn der Zug nach Buxtehude ein bisschen bummelt oder sich auf dem Weg nach Speyer verspätet. Und wenn gar ein Zug ganz ausfällt und man 30 oder 60 Minuten auf den nächsten warten muss, oh la la, dann ist das für den Bünzlibürger ein Weltuntergang!

Mir selbst ist das immer vollkommen egal, weil ich weiß, dass der Tag 24 Stunden hat. Und kein Zugausfall kann mir die wegnehmen. Wer immer mit einem Buch aus dem Haus geht, kann überall entspannt warten. Und dank verspäteter oder ausgefallener Züge, Schiffe und Flüge habe ich schon die interessantesten Menschen kennengelernt.

Außerdem finde ich es piefig, sich wegen kleiner Verspätungen aufzuregen, während Menschen nur wenige hundert Kilometer weiter östlich froh sind, die Eisenbahnreise überhaupt zu überleben.

Am Hauptbahnhof in Berlin wird man eher selten ermordet oder erschossen, dafür stirbt man im Winter an Unterkühlung. Ehrlich, das ist nicht nur der hässlichste, sondern auch der dümmste Bahnhof Europas. Da pfeift sowas von der Wind durch. Wahrscheinlich ist das sogar Absicht, weil sich die Bahn so das Ausfegen spart.

Ich muss in eines der oberen Geschosse, zur S3 nach Köpenick. Und was sehe ich da? Zwei Bahnkümmerinnern stellen gerade den blinden Mann ab, mit dem ich vorhin im Zug war. Das ist ja ein Zufall!

Weil er mich nicht gleich erkennt, stelle ich mich vor und teile erfreut mit, dass ich ebenfalls nach Köpenick fahre. Daraufhin entlässt er die beiden Begleiterinnen. Ich helfe ihm in den Zug und erzähle, hauptsächlich aus Sorge, dass er glaubt, dies alles sei irgendein Trick, um einen blinden Mann auszurauben, dass ich nach Köpenick fahre, weil ich die kommenden sechs Wochen in Müggelheim verbringe. Ich mache dort Haus- und Katzensitting für eine Familie, die in der Zeit in Thailand urlauben wird.

„Ah, Thailand,“ sagt er, „das ist schön! Da fliege ich im Mai auch hin.“

„Oh“, sage ich, weil ich vorhin noch vermutet hatte, dass mit der Blindheit das Reisen keinen Sinn mehr mache.

Und dann erzählt er ganz frohgemut, dass er jedes Jahr ein- oder zweimal nach Thailand fliege. Aber eher in den Norden, ins Gebirge. „Das Meer ist nicht so meine Sache, denn mit dem Schwimmen tue ich mich schwer.“ Das sehe ich ihm gerne nach, denn ich kann auch nicht schwimmen. Und ich habe keine gute Ausrede, außer dass ich in Bayern und mithin einem Binnenstaat aufgewachsen bin.

Ganz begeistert erzählt er von seinen Reisen. Von Städten und Provinzen, von denen ich noch nie gehört habe. Vom Essen. Von Freunden in Thailand. Die einzige Einschränkung für ihn sei, dass er gerne immer in die gleiche Ferienwohnung gehe, weil er dann schon weiß, wo alles liegt und steht.

Vorsichtig frage ich, ob er da irgendeine Hilfe oder Begleitung habe.

„Das brauche ich nicht,“ wiegelt er ab, „ich spreche ja Siamesisch.“

Mir kommt ein wunderbares Buch über James Holman in den Sinn, das ich vor langer Zeit gelesen habe. Holman war blind, reiste aber vor 200 Jahren – meist allein – um die ganze Welt, auf alle bewohnten Kontinente, bestimmte Pflanzen, jagte Elefanten, bekämpfte den Sklavenhandel und wurde als Spion verhaftet.

„Wo sind wir?“ fragt der blinde Passagier.

Ich blicke aus dem Fenster: „Rummelsburg.“

„Ah, dann haben wir noch vier Stationen“, sagt er, ganz ohne Google und Interweb.

Leider nur mehr vier Stationen, sonst hätte ich mehr Details seiner Lebensgeschichte erfahren. In der DDR hatte er bei der Staatlichen Versicherung gearbeitet und aus Jux und Tollerei eine Maklerlizenz erworben. „Das hat damals niemand gemacht, weil man sie für nichts brauchte“, sagt er, „aber dann kam die Wende, und ich konnte mich sofort selbständig machen.“

Es ist eine Wendegewinnergeschichte. Er hatte Freunde bei mehreren Arbeiterwohnungsgenossenschaften. In der DDR gehörten die Wohnungen nämlich dem Volk, nicht dem Kapital. Aber das soll in Berlin ja auch bald wieder so sein. 1990 wurde dann der Sozialismus verboten, die Genossenschaften mussten hauptamtliche Geschäftsführer bestellen, und niemand wollte mehr Verantwortung übernehmen. Alle wollten sich gegen alles versichern. „Und plötzlich hatte ich mehrere Zehntausend Wohnungen versichert“, freut er sich noch heute über diesen Coup.

Irgendwann kam noch ein windiger Wessi als Geschäftspartner, der windige Bürgschaften für windige Fußballvereine gab, die der Stasi gehörten. Aber davon erzähle ich besser nichts, denn man weiß nicht, ob wirklich alle Stasi-Killerkommandos schon in Rente sind.

Unser Versicherungsmillionär verkaufte jedenfalls sein Unternehmen, zog für 8 Jahre nach Thailand, lernte dort die Sprache und baute erneut ein Versicherungsimperium auf. So sind die Ossis, immer voller Energie und Tatendrang. Aber jetzt ist er Rentner in Köpenick.

„Nächstes Jahr werde ich 80“, sagt er. „Dann nehme ich die ganze Familie mit nach Thailand. Die Kinder, die Enkelkinder und die Urenkel. Ich mache den Reiseführer und werde ihnen alles zeigen.“

Er freut sich schon sichtlich.

Anscheinend ist das Leben doch nicht vorbei, wenn man blind wird. So komisch es klingt, aber ich kenne Sehende, die sehen weniger von der Welt.

Am Bahnhof in Köpenick helfe ich ihm noch die Treppe runter.

„Ich muss nach links“, sagt er.

„Ich auch. Ich muss zum Bus nach Müggelheim.“

„Oh, da müssen Sie jetzt nach rechts, die Haltestelle wurde verlegt“, sagt er und beschreibt mir ausführlich den Weg, wie wenn er die ganze Straßenszene, einschließlich Baustellen, vor sich sieht.

„Sehen Sie, so konnte ich Ihnen auch noch helfen“, sagt er verschmitzt und fröhlich zum Abschied.

Kurz darauf bin ich am Müggelsee, und das ist eigentlich genauso schön, wie wenn ich bis zur Ostsee weitergefahren wäre. Nur ohne Raketenabschussbasen.

Links:

Veröffentlicht unter Deutschland, Reisen | Verschlagwortet mit , , | 7 Kommentare

Sonnenuntergang an der Trambahnhaltestelle

Gestern Abend habe ich mal wieder gemerkt, warum ich kein Fotograf bin: Man muss da nämlich vorausplanen. Und Planung, insbesondere die im Voraus, widerstrebt meiner Lebensauffassung ganz beträchtlich.

Es muss ein wunderbarer Sonnenuntergang gewesen sein. Ich habe ihn nicht direkt gesehen, weil Bäume, Häuser, Hügel und die ganze Stadt dazwischen waren. Ein richtiger Fotograf hätte eben vorher in den Sonne-, Mond- und Sternenkalender geguckt, hätte sich notiert, wann die Sonne untergeht, und wäre dann auf den Adelsberg, auf den Aussichtspunkt im Zeisigwald oder zu einem Bekannten, der im 10. Stock mit Blick nach Westen wohnt, gefahren.

Ich selbst stand, zwischen zwei Terminen und schon reichlich aber nicht untypisch verspätet, an der Straßenbahnhaltestelle Treffurthstraße. Linie 5, vielleicht meine Lieblingsstraßenbahnlinie in Chemnitz.

Es muss ein wahnsinniger Sonnenuntergang gewesen sein. Denn überall verbreitete er gleißendes, wohliges Licht, so ein Licht, das alle Sorgen vergessen lässt. Die Farben wandelten zwischen goldgelb wie bei perfekt herausgebackenen Kartoffelschnitten und rostbraun wie bei einem alten Chevrolet-Pickup, den man nach 70 Jahren in der Scheune des Großvaters in Wyoming findet.

Schöne Motive hatte ich keine, nur ein paar Fabriken. Aber das Licht! Und die Wolken! Und die Wärme!

Also habe ich trotzdem versucht, die Stimmung einzufangen:

Ihr könnt Euch das Ganze ja mit einem romantischen Schloss oder am Meer vorstellen. Oder Euch daran erinnern, jeden Abend auf den Sonnenuntergang zu achten und einfach mal eine Viertelstunde innezuhalten. Den Stift weglegen, den Computer zuklappen, das Fließband anhalten, auf den Balkon oder in den Garten spazieren und einfach genießen.

Links:

Veröffentlicht unter Deutschland, Fotografie | Verschlagwortet mit , | 14 Kommentare